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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Orient-Express am frühen Mittag bei nur leicht bewölk tem Himmel und angenehm milden Temperaturen durch schäbige Viertel. Sie zogen sich an den Hängen der sechs, sieben Hügel ent lang, die Konstantinopel auf seinem Stadtgebiet für sich reklamierte, weil es nicht hinter Rom zurückstehen wollte.
    Der Blick fiel zu beiden Seiten der Gleise auf ein dichtes Gedränge von kleinen, grässlich gelb oder schmutzig rosa verputzten Häusern mit windschiefen, geschlossenen Fensterläden und flachen Dächern, auf denen Wäsche zum Trocknen hing, wobei so manche Wäschelei ne den Inhalt eines Lumpensackes zur Schau zu stellen schien. Und in den dreckigen Gassen trieben sich mehr abgemagerte Hunde als Menschen herum.
    »Traue nie einem Reiseführer!«, sagte Alistair, als er die langen Gesichter um sich herum sah. »Reiseschreiberlinge wollen immer etwas verkaufen und zu einem Buch über Drecknester und Paradiese für streunende Hunderudel und Ungeziefer greift man nun mal nicht so oft wie zu Büchern über verzauberte orientalische Städte, über denen noch ein Hauch von Aladin und seiner Wunderlampe schwebt!«
    »Du alter Spötter!«, grollte Harriet, die auch zu den Enttäuschten gehörte.
    Aber dann hob sich die Stimmung im Zug beträchtlich, als der Orient-Express dem Bogen der Felsenküste am Marmarameer von Stambul folgte und dabei nahe am riesigen Gelände des legendären Serail vorbeidampfte. Es war, als hätte sich plötzlich ein ungeheurer Theatervorhang gehoben und den Reisenden das Bild des wirklichen Konstantinopel enthüllt.
    Alles drängte sich zu den Fenstern auf der linken Zugseite. Denn dort zogen nun hinter hohen dunklen Zypressen und auf sanft abfal lenden Terrassen die kunstvoll angelegten Parkanlagen vorbei, in denen die herrlichen Pavillons und wahrlich märchenhaften kaiserli chen Paläste eingebettet lagen. Diese dienten den Herrschern des Osmanischen Reiches jedoch schon lange nicht mehr als Residenz und Sitz der »Hohen Pforte«, wie sich die Regierung nannte. Die Sul tane hatten sich längst anderswo noch viel prunkvollere Paläste er richten lassen und benutzten den Serail nur noch bei wenigen zere moniellen Anlässen. Und nur dann war er für die Öffentlichkeit ge sperrt.
    Augenblicke später fiel der erwartungsvoll suchende Blick auch auf die ersten leuchtenden Kuppeln von Moscheen und ihre hohen schlanken Minarette, die sich wie riesige Altarkerzen in den klaren Himmel erhoben. Jetzt war man wieder versöhnt mit dem Ziel seiner Reise und dem exorbitanten Fahrpreis und konnte es nicht erwarten, aus dem Zug zu steigen und mehr von Konstantinopel zu sehen.
    Auch Byron und seine Gefährten drängte es, aus dem Zug und mit ihrem Gepäck ins Pera Palace zu kommen. Aber nicht, weil die Se henswürdigkeiten sie lockten, sondern weil sie endlich herausfinden wollten, was es mit der »Stimme des Propheten« auf sich hatte und wie sie ihr Mortimers dritten Hinweis auf das Versteck der Judas-Papyri entlocken konnten.
    Aber vor die Vergnügungen oder Geschäfte der Reisenden hatten die osmanischen Behörden ihr Pass-und Zollwesen gesetzt, wie sie bei ihrer Ankunft im Stambuler Bahnhof nahe der Neuen Brücke so gleich feststellten.
    Die Passformalitäten waren schnell erledigt. Aber in der Zollhalle zeigten die türkischen Behörden ihr korruptes Gesicht. Nicht nur, dass die Zollbeamten das Gepäck der Reisenden rücksichtslos durch wühlten, als hätten sie einen Haufen schmutziger Wäsche vor sich. Nein, sie belegten jedes Kleidungsstück, das neu aussah – und wel ches Teil der Garderobe sah bei der vermögenden Klientel des Orient-Express nicht neu aus! – , mit dreisten Zollgebühren.
    »Das ist ja wohl der Gipfel der Frechheit, uns hier so abzuzocken!«, empörte sich Alistair und er war bei Weitem nicht der Einzige, der sich über diese Schikane lauthals empörte. »Was haben diese Fezköpfe denn gedacht? Dass wir in abgelegten Klamotten von der Heilsarmee aus dem Orient-Express aussteigen und es nicht erwarten können, uns hier Kaftane zu kaufen?«
    »Erstens sehe ich hier nirgendwo einen Beamten, der einen Kaftan trägt«, erwiderte Byron ruhig. »Und zweitens wird auch alle Empö rung nichts daran ändern, dass wir wohl in den sauren Apfel beißen und eine hübsche Stange Geld herausrücken müssen.«
    »Seien Sie nur froh, dass Sie keine dieser unerhörten Leibesvisitationen über sich ergehen lassen müssen!«, sagte ein Mann in ihrer Nähe leise und mit einem vielsagenden Blick auf Harriet.

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