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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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»Also, das scheint mir doch etwas spitzfindig und weit hergeholt zu sein, Byron«, protestierte er recht lahm.
    »Nein, das ist weder spitzfindig noch weit hergeholt, sondern nur das konsequente Weiterdenken deiner Verneinung Gottes!«, wider sprach Byron.
    »Ich habe nie behauptet, beweisen zu können, dass Gott nicht exis tiert«, brummte Alistair. »Und ich will ja gelten lassen, dass der Athe ismus auch nur ein Glauben auf der Grundlage unbeweisbarer An nahmen ist. Aber solange Gott sich mir nicht irgendwie zu erkennen gegeben hat, ziehe ich es vor, mein Leben nach anderen . . . Überzeu gungen und Maximen zu leben. Ich denke nicht, dass mich das zu ei nem Menschen zweiter Klasse macht.«
    »Ganz und gar nicht«, stimmte Byron ihm zu. »Ich vermute sogar, dass sich der Anteil der anständigen und großmütigen Menschen unter den Atheisten, Christen und anderen Gottglaubenden die Waage hält. Das Bekenntnis zu einer in Gott begründeten Religion macht aus dem Menschen leider noch keinen Menschenfreund, sonst gäbe es längst keine Kriege und keinen Hass mehr zwischen den Völkern.«
    Alistair verbarg seine Erleichterung, dass er bei dieser Diskussion noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen war, hinter einem entwaffnenden Grinsen. »Na, prächtig!«, erklärte er betont locker, während die Kellner das Essen an den Tischen servierten. »Darauf können wir uns einigen, Partner! Und damit ist alles aus dem Weg geräumt, was uns den Appetit hätte verderben können. Diese Rinderfilets à la Périgord sehen köstlich aus, findet ihr nicht auch?«
    »Was meint ihr, in welche Ecke der Weltgeschichte Mortimer uns schickt, wenn wir in Konstantinopel diese ›Stimme des Propheten‹ gefunden haben?«, rätselte Harriet eine Weile später.
    Unwillkürlich sahen sich Byron und Horatio an.
    »Tja, ihr wisst ja, dass Horatio und ich in Bukarest noch mal die Sei ten des nächsten Abschnitts durchgegangen sind«, sagte Byron. »Auf die nächste codierte Botschaft sind wir dabei noch nicht gestoßen. Aber die ikonenhaften Zeichnungen, von denen es auf diesen Seiten nur so wimmelt, lassen schon mal eine Vermutung zu.«
    »Und die wäre?«, fragte Alistair mit vollem Mund.
    Horatio übernahm es, ihm darauf zu antworten. »Nun, wenn man Mortimers Ikonenkritzeleien als einen Fingerzeig auf ein Land mit orthodoxer Kirche liest, seinen Hinweis auf das Kloster St. Simeon hinzunimmt und sich dann noch vor Augen hält, dass wir die Weiter reise von Konstantinopel aus antreten«, sagte er, »dann haben wir beste Chancen, dass der Weg vom Goldenen Horn uns geradewegs nach Russland führt, ist es doch bloß ein kleiner Sprung hinüber ins Reich des Zaren.«
    Bestürzt ließ Alistair das Besteck sinken. »Alles, nur nicht Russ land!«, stöhnte er. »Da kommen wir ja vom Regen in die Traufe! Ich kann keinen Schnee mehr sehen! Gebe Gott, dass dieser bittere Kelch an uns vorübergeht!«
    Im nächsten Moment brachen Byron, Harriet und Horatio in schal lendes Gelächter aus, sodass man sich an den Nachbartischen ver wundert oder gar missbilligend zu ihnen umschaute.
    Alistair blickte verdutzt in die Runde seiner Freunde. Im ersten Moment wusste er nicht, was er denn so Belustigendes gesagt hatte. Dann jedoch wurde er sich bewusst, wen er da in seinem letzten be schwörenden Satz um Beistand gebeten hatte.
    Sein Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Nun beruhigt euch mal wieder. So schnell läuft es mit meiner Bekehrung nicht. Das war nur so ein . . . ein verbales Hufeisen!«
    Die nächtliche Reise nach Konstantinopel bescherte ihnen die vergnüglichsten Stunden, die sie bislang zusammen verbracht hatten. Sie festigten ihre noch junge Freundschaft und das gegenseitige Ver trauen, sich auch in größter Gefahr aufeinander verlassen zu können. Ein Vertrauen, das sich in der Stadt am Bosporus als bitter nötig erweisen sollte.

2
    D er erste Eindruck von Konstantinopel, seit Beginn seiner turbulen ten Geschichte ein Schmelztiegel von Okzident und Orient, war alles andere als grandios. Besonders jene Fahrgäste, die zum ersten Mal in diese Stadt am Goldenen Horn reisten, sahen sich in ihren hohen Erwartungen enttäuscht. Nach all den leuchtenden Bildern und hym nischen Beschreibungen, die sie der einschlägigen Reiseliteratur entnommen hatten, war vor ihr geistiges Auge das Bild einer mär chenhaften Stadt wie aus Tausendundeiner Nacht getreten.
    Doch statt an orientalischen Palästen und Gärten entlangzurollen, zuckelte der

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