Die Judas-Papiere
benutzte. Byron war ihm dankbar dafür. Denn er hatte nicht vergessen, dass sie bei dem Raubüberfall durch ein Mit glied des Ordo Novi Templi in der Wiener Kanalisation nur dank glückli cher Umstände mit einem blauen Auge davongekommen waren.
Sie rätselten noch immer, was es mit diesem mysteriösen Orden auf sich hatte und warum die Ordensleute ihnen Mortimers Notiz buch abjagen wollten. Zwar fühlten sie sich mittlerweile einigerma ßen sicher vor ihnen und glaubten, sie mit ihrem Ablenkungsmanö ver im Bristol erfolgreich in die Irre geführt zu haben. Dennoch galt es, auch weiterhin höchste Wachsamkeit walten zu lassen. Denn nie mand wusste, ob sie ihre Spur aufgenommen hatten und ob sie ih nen nicht noch einmal in die Quere kommen konnten. Unbeantwor tet war bislang auch die Frage geblieben, wer sich hinter dem Namen Die Wächter verbarg und wieso auch jene Leute von ihrer Suche nach den Papyri des Judas wussten.
Fragen ganz eigener Art boten weiterhin Mortimers Aufzeichnun gen. Und während Byron in diesen Tagen seine Freunde zwar gele gentlich bei Streifzügen durch die Stadt begleitete, nutzte er doch die meisten Stunden dazu, um in dem wirren Gekritzel den codier ten Hinweis auf das nächste Ziel ihrer Reise ausfindig zu machen.
Aber immer wieder gab er der Versuchung nach, diese Suche für Stunden zu vernachlässigen und sich den geheimnisvollen aramäi schen Passagen aus der Judasschrift anzunehmen, die über alle Seiten verstreut waren. Diese Textstellen quasi Zeichen für Zeichen aus all dem Gewirr herauszulösen, sie erst zu einzelnen Wörtern und dann zu Sätzen zusammenzufügen und über ihrer richtigen Übersetzung zu brüten, übte einen noch stärkeren Reiz auf ihn aus als die andere Aufgabe. Dabei kam er sich wie ein Archäologe vor, der in mühseliger Kleinarbeit Scherbe um Scherbe aus dem Sand fegte, sie zusammentrug und dann diesen Haufen scheinbar nutzloser Scherben wieder in das verwandelte, was sie einst gewesen waren, etwa ein Mosaik, eine bemalte Schale oder eine Amphore.
Manchmal schaute Harriet bei ihm herein, erzählte ihm, was sie in zwischen erreicht hatte, und sah ihm dann eine Weile schweigend und auch staunend zu.
Diese Minuten waren ihm dann noch kostbarer als die knifflige Ar beit am aramäischen Text.
»Was hast du für eine Engelsgeduld, Byron«, sagte sie einmal fast andächtig, als sie sah, wie er langsam einen aramäischen Buchstaben an den anderen reihte. »Ich könnte das nie! Meinst du, es lohnt die viele Arbeit, die du dir damit machst?«
Er schaute auf. »Alles, was man mit Liebe macht, lohnt sich, Harriet. Und nicht das Ergebnis ist der Lohn, sondern dass man es machen darf!«
»Liebe ist so ein großes Wort«, sagte sie leise. »Es kann so vieles und zugleich doch auch so wenig bedeuten. Es hängt wohl immer davon ab, was man unter Liebe versteht und was man von ihr erwartet.«
»Das ist wohl wahr«, antwortete er und hatte das Gefühl, dass dies der Moment für eine offenherzige Erklärung sein konnte. Doch be vor er noch den Mut fand, einen Versuch in diese Richtung zu ma chen, wechselte sie hastig das Thema.
»Gibt es denn wenigstens wieder etwas Interessantes aus dem Judas Text, das sich vorzulesen lohnt und auch einem Unstudierten verständlich ist?«, fragte sie mit veränderter, nun wieder forscher Stimme.
Byron seufzte verhalten ob der vergeudeten Chance. »Ja, das gibt es sehr wohl«, sagte er und blätterte in seinem Notizbuch zurück. »Da ist zum Beispiel diese interessante Stelle: Komm, damit ich dir Ge heimnisse lehren kann, die kein Mensch jemals zuvor erblickte. Denn es existiert ein großes unendliches Reich, dessen Ausdehnung kein Geschlecht von Engeln jemals sah, in welchem ein großer unsichtbarer Gott ist .«
»Und du meinst, das ist Jesus, der da zu Judas spricht?«
»Alles deutet darauf hin, denn Judas sieht sich ja fast in allen Passa gen, die ich bisher gefunden habe, als einzig Auserwählter aus dem Kreis der Jünger. Faszinierend ist auch die folgende Stelle, in der es heißt: Eines Tages war er mit seinen Jüngern in Judäa und fand sie bei Ti sche versammelt in Frömmigkeit. Als er auf sie zuging, die sie bei Tische versammelt waren, ein Dankgebet über das Brot sprechend, lachte er. Die Jünger sprachen zu ihm: ›Meister, warum lachst du über unser Dankgebet? Wir haben getan, was recht ist.‹ Er aber antwortete und sprach zu ihnen: ›Ich lache nicht über euch. Ihr habt dies nicht aufgrund eures eigenen Wil lens
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