Die Judas-Papiere
ich wieder dick im Plus bin!«
»Keine Sorge! Nach Russland geht es zum Glück nicht, sondern nach Makedonien«, entgegnete Horatio. »Denn jener Simon, von dem hier die Rede ist, war ein griechischer Einsiedlermönch, der im vierzehnten Jahrhundert lebte. Wie die Legende erzählt, hatte er einst während der Christnacht auf einer felsigen Halbinsel eine Visi on. Er sah in der Nähe der Grotte, in der er lebte, über einem Felsen einen hellen Stern. Diese Vision deutete er als göttliches Zeichen, mit seinen Schülern auf diesem Sporn ein Kloster zu bauen. Das er wies sich bei dem fast unzugänglichen Felsen als äußerst mühsam und auch gefährlich. Simons Anhänger begannen schon bald, über diese Zumutung zu murren, und wollten die Arbeit einstellen.«
»Und dann geschah vermutlich mal wieder ein Wunder, wie bei diesen Legenden üblich«, warf Alistair spöttisch ein.
»So ist es, du ungläubiger Thomas«, bestätigte Horatio. »Einer von Simons Schülern, ein Mann namens Isais, der Wasser holen wollte, stürzte von ebenjenem Felsen in die Tiefe. Er hätte sofort tot sein müssen. Aber wundersamerweise stand er sofort wieder auf, denn er hatte sich bei dem tiefen Fall nicht die geringsten Verletzungen zugezogen. Und auch seine Tongefäße, die er dabeihatte, waren völlig unversehrt geblieben. Dieses Wunder galt den Männern als göttliche Bestätigung, den Bau fortzusetzen. Als das Kloster fertig war, erhielt es den Namen ›Neues Bethlehem‹. Doch nach Simons Tod wurde das Kloster neu getauft, und zwar auf Petra, was ›Felsen‹ bedeutet, und auf den Namen seines Gründers. Und seitdem heißt dieses Kloster ›Simonopetra‹!«
»Wirklich ergreifend!«, sagte Alistair. »Schon erstaunlich, was an deren Leuten so an Wundern widerfährt. Da fragt man sich doch, wa rum man selbst so selten Visionen und Wunder erlebt. Gestern Nacht bei Murat hätte ich die eine oder andere visionäre Offenba rung gut gebrauchen können.«
»Nun halt doch mal dein Lästermaul!«, sagte Harriet zu ihm, doch eher gelangweilt als verärgert. »Wir wissen ja längst zur Genüge, dass aus dir nie ein religiöser Mensch wird. Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr. Also lass Horatio erzählen, was er über dieses Klos ter Simonopetra weiß und wo es überhaupt liegt.«
»Es liegt auf der bergigen Halbinsel Athos, die wie ein leicht ge krümmter Finger in das Ägäische Meer ragt, mit einem hohen Berg gleichen Namens«, teilte Horatio ihnen mit. »Und zwar auf der West seite am Golf von Hagion Oros, was auf Griechisch ›Heiliger Berg‹ heißt. Dort gibt es noch viele andere derartige Klöster. Alle sehr abge legen und auf Felsen gebaut, oftmals nur über Bergpfade zugänglich und vor allem sehr verschlossen gegenüber der Außenwelt. Die Mön che leben in den Klöstern zwar zumeist in einer größeren Gemein schaft, ihrem ganzen Wesen und Lebensstil nach aber wie Einsiedler.«
»Was bedeutet, dass wir nicht einfach in dieses Kloster Simonopet ra auf Athos hineinspazieren und diese Panaghia-Ikone mal eben ab hängen können, um nach Mortimers Hinweis zu suchen!«, folgerte Harriet.
»Hast du denn etwas anderes erwartet?«, fragte Alistair grimmig. »Das hätte dem Irren doch gar nicht ähnlich gesehen, uns zur Ab wechslung mal leichtes Spiel zu gönnen!«
»Wenn Mortimer sich Zugang zu dem Kloster verschaffen konnte, dann wird es auch uns irgendwie gelingen«, meinte Byron.
»Du vergisst, dass der stinkreiche Lord über viel Einfluss verfügte und dem Kloster diese Muttergottes-Ikone bestimmt zum Geschenk gemacht hat«, gab Horatio zu bedenken. »Damit können wir nicht aufwarten.«
»Du könntest doch ein ganz seltenes Stück, das in irgendeiner Sammlung in Russland oder sonst wo hängt, fälschen und uns damit Zutritt verschaffen!«, schlug Alistair fort.
Horatio lachte auf. »Weißt du, wie lange es dauert, um eine täu schend echte Ikone herzustellen? Und zwar nicht wie manche Pfu scher, die dabei noch Krakelüren einarbeiten, was dem Kundigen so gleich verrät, dass es eine Fälschung ist! Darüber kann es Sommer nächsten Jahres werden!«
»Krake-was?«, fragte Harriet.
»Das sind diese typischen Risse in den Farbschichten alter Gemäl de«, erklärte Horatio. »Viele Fälscher, die sich nicht eingehend mit der Ikonenmalerei beschäftigt haben, malen Ikonen von irgendwel chen Vorlagen wie Drucken ab. Und dabei fertigen sie diese Bilder mit Ölfarben an, nicht wissend, dass Ikonen nie mit Öl, sondern im mer nur in
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