Die Judas-Papiere
Einzige, was diese gewaltigen Mengen geschmacklos verbauten Kalksteins klar und unmissverständlich zum Ausdruck brachten, waren der enorme Reichtum und das ebenso große Geltungsbedürfnis der Pembrokes.
Die Kutsche kam vor dem vorspringenden Säulenportal zum Ste hen, und gerade waren die drei Männer ausgestiegen, als ein Reiter ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Er kam zu ihrer Rechten jenseits der Gartenanlagen auf einem prächtigen Schimmel über eine grasbewachsene Anhöhe gesprengt. Im gestreckten Galopp und tief über die Kruppe des Pferdes ge beugt, jagte der Reiter den Abhang hinunter und auf das Herrenhaus zu. Er lenkte das Tier jedoch nicht nach rechts, wo ein hoher Heckenbogen von außen Einlass in die Gartenanlage gewährte, sondern hielt geradewegs auf die lange, gut brusthohe Wand der Hecke zu, die das freie Gelände von den geometrisch angelegten Grünflächen rund um Pembroke Manor abgrenzte.
»Um Himmels willen, der Bursche wird doch wohl nicht so verrückt sein und über die . . .!«, entfuhr es Horatio Slade erschrocken, er kam jedoch nicht mehr dazu, seine Befürchtung ganz auszusprechen.
Denn in dem Augenblick stieg der Schimmel auch schon vorne in die Höhe und setzte mit einem atemberaubend eleganten Sprung über das hohe Hindernis – und mit ihm die athletisch schlanke Gestalt, die wie angegossen über dem lang gestreckten Leib des Pferdes lag. Und dann spritzte auch schon der Kies auf den Gartenwegen unter den trommelnden Hufen des Pferdes nach allen Seiten weg, während es im Galopp heranjagte.
Erst ein knappes Dutzend Pferdelängen vor dem Portal griff der Reiter in die Zügel und brachte den Schimmel noch rechtzeitig vor dem Stallknecht zum Stehen, der mittlerweile aus einer Seitentür in den Hof geeilt war. Die Flanken des herrlichen Tieres glänzten schweißnass und ihm standen einige Flocken Schaum vor dem Maul. Doch trotz aller Anstrengung machte es nicht den Eindruck, über Ge bühr von seinem Reiter gefordert worden zu sein.
»Mich laust der Affe! Dieser verrückte Reiter ist ja gar kein Mann!«, stieß Alistair McLean ungläubig hervor, als die Gestalt auf dem Schimmel kurz zu ihnen herüberblickte, dabei den Kinnriemen ihrer Reiterkappe löste, den Helm abnahm und das verschwitzte Haar aus schüttelte. Das Gesicht der jungen Frau, auf das nun nicht mehr der tiefe Schatten des Helms fiel, war grazil und wurde von kastanien braunem Haar eingerahmt, das sie als Pagenfrisur trug. »Und das toll kühne Weibsbild ist nicht nur wie ein Mann gekleidet, sondern auch wie ein Husar im Herrensattel geritten!«
»Höchst unschicklich«, murmelte Byron missbilligend.
»Fürwahr! Aber wie man sieht, kann sie es sich erlauben«, bemerk te Horatio Slade trocken. »Schätze mal, sie gehört zum Pembroke-Clan.«
Mit einer ungemein geschmeidigen, fast katzengleichen Bewe gung glitt die Reiterin, die erdbraune kniehohe Reitstiefel zu hellen Breeches trug, aus dem Sattel. Wortlos warf sie dem Pferdeknecht Reitgerte und Helm zu, sah mit einem knappen Kopfnicken als Be grüßung zu ihnen herüber und hastete dann alles andere als damen haft mit kraftvoll federnden Schritten die Stufen hinauf.
Der Kutscher, der die Bemerkung von Horatio Slade mitbekommen hatte, räusperte sich nun hinter ihm. »Erlauben Sie mir die Bemer kung, Sir, dass Sie sich mit dieser Annahme im Irrtum befinden. Miss Harriet Chamberlain weilt wie Sie als Gast auf Pembroke Manor. Nur ist sie schon am frühen Nachmittag eingetroffen und hat die Zeit bis zu Ihrer Ankunft für einen längeren Ausritt genutzt.« Und an sie alle drei gewandt, fügte er mit einer knappen Geste hinauf zum Portal hinzu: »Wenn Sie nun die Freundlichkeit hätten, sich nach oben zu begeben, Gentlemen! Mister Trevor Seymour, der Butler Seiner Lordschaft, wird Sie sicher schon oben an der Tür erwarten. Und was Ihr Gepäck betrifft, so wird Ihnen das von einem Hausbediensteten sogleich auf Ihr Zimmer gebracht.«
Alistair McLean verzog das Gesicht zu einem fröhlichen Grinsen, als sie die Freitreppe zum Säulenportal des Herrenhauses hinaufstiegen.
»Schau an, die Kleine ist auch nur zu Gast hier! Na, da hat sie sich aber rasch eingelebt! Also, ihre Bekanntschaft zu machen, wird be stimmt ein Vergnügen sein.« Dabei warf er Byron einen spöttischen Seitenblick zu. »Es besteht also Hoffnung, dass es doch noch ein ver gnügliches Wochenende werden könnte.«
Byron ging auf den spitzzüngigen Seitenhieb nicht ein. Ihn be schäftigte in diesem Moment
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