Die Judas-Papiere
etwas ganz anderes, nämlich die merk würdige Bemerkung des Kutschers, dass die fremde junge Frau die Zeit bis zu ihrer Ankunft für einen langen Ausritt genutzt habe.
Wieso bis zu ihrer Ankunft? Warum hätte sie auf den Zeitpunkt ih res Eintreffens auf Pembroke Manor Rücksicht nehmen sollen?
»Mister Bourke . . . Mister Slade . . . Mister McLean, willkommen auf Pembroke Manor, Gentlemen«, begrüßte sie der Butler oben am Eingang zur riesigen Vorhalle mit der Andeutung einer Verbeugung. Seine Stimme hatte einen kratzig trockenen Klang, als wäre seine Kehle so ausgedörrt wie ein seit Jahren ausgetrockneter Brunnen. Dabei schaute er im wahrsten Sinne des Wortes auf die Gäste seiner Herrschaft herab.
Denn Trevor Seymour, der in einem schwarzen Butlerfrack mit steifer weißer Hemdbrust steckte und Handschuhe aus feinem wei ßem Leinen trug, war ein hagerer, etwa sechzigjähriger Mann von ungewöhnlich hoher Gestalt. Er besaß das ausgezehrte, spitzknochi ge Gesicht eines strengen Asketen, in dem die hellen klaren Augen in ihren tiefen Knochenhöhlen viel zu groß wirkten. Weißgraues Haar, das für einen Mann seines Alters noch überraschend dicht war, be deckte seinen Kopf.
»Seine Lordschaft lässt sich entschuldigen, Gentlemen«, fuhr der Butler mit staubtrockener Förmlichkeit fort. »Er erwartet Sie alle ge meinsam um halb sieben, also in einer guten halben Stunde, im Sa lon des Westflügels zu einem kleinen Umtrunk vor dem Dinner. Er lauben Sie mir nun, Sie zu Ihren Gemächern zu führen, damit Sie sich vor Ihrer Begegnung mit Seiner Lordschaft ein wenig frisch machen können. Wenn Sie mir bitte folgen würden, Gentlemen!« Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er ihnen seinen langen, schmalen und befrackten Rücken zu und schritt voran.
Die gewaltige Eingangshalle mit dem schwarz-weißen Marmorbo den im Schachbrettmuster, der hohen stuckverzierten Kuppeldecke und den beiden geschwungenen Treppenaufgängen war beeindru ckend, wie selbst Byron insgeheim einräumen musste. Sie war so groß, dass glatt eine Kompanie Soldaten in ihr hätte Aufstellung neh men können, ohne sich dabei gegenseitig ins Gehege zu kommen. Und überall fiel der Blick auf lebensgroße Statuen aus edelstem Mar mor, die griechische und römische Gottheiten sowie berühmte Ge stalten der Antike darstellten.
»Das ist ja der reinste heidnische Musentempel!«, bemerkte Alistair McLean beim Anblick der Galerien. »Hier Diana, Neptun und Juno, dort Athene, Apoll und Medusa, wenn mich nicht alles täuscht. Nur der prächtige Bursche dort drüben, der nackt an den Baum gebun den ist, sagt mir nichts. Und die Altmännerbüste in der Treppennische da oben auch nicht.«
»Bei der Büste dürfte es sich um den griechischen General und Ge schichtsschreiber Thukydides handeln«, sagte Horatio Slade und kam damit Byron um einen winzigen Moment zuvor.
Byron pflichtete ihm bei. »Zweifellos ist es Thukydides, der Stamm vater der historischen Geschichtsschreibung. Und der Mann dort am Baum ist natürlich Marsyas aus der griechisch-römischen Sagenwelt, ein Satyr, also ein . . .« Weiter kam er in seiner Erklärung nicht.
»Natürlich! Wie habe ich das bloß übersehen können, nicht wahr? Wo doch in jedem halbwegs anständigen Haushalt solch ein hüb scher Marsyas-Satyr den Kaminsims ziert!«, fiel ihm Alistair McLean ins Wort und schlug sich an die Stirn. »Wo habe ich nur meine Augen gehabt! Man könnte mich ja fast für ungebildet halten. Nur gut, dass Sie mich daran erinnert haben, Mister Bourke! Auf Ihre Belehrungen ist wirklich Verlass! In diesem Zusammenhang fällt mir übrigens eine recht treffende Äußerung des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche ein, der einmal formulierte: Gebildet sein, heißt, sich nicht anmerken zu lassen, wie schlecht man ist!«
Horatio Slade lachte leise glucksend auf. »Nicht übel, Mister McLean!«
Byron verkniff es sich, auf die Unverschämtheit von Alistair McLean eine schlagfertige Antwort zu geben. Dieser ungehobelte Grün schnabel war es nicht wert, dass er sich von ihm provozieren ließ! Das Beste war, er ignorierte ihn und ging ihm aus dem Weg, so gut es eben ging. Bedauerlicherweise verhieß nun auch die Bemerkung des Butlers, dass Lord Pembroke sie alle gemeinsam um halb sieben im Salon des Westflügels erwartete, nichts Gutes.
Der Butler führte sie Augenblicke später in einen Gang, von dem dunkle, schwere Kassettentüren zu ihren Gästequartieren abgingen.
»Percy wird gleich mit Ihrem
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