Die Judas-Papiere
ließ sich während der römischen Belagerung von Syrakus trotz seines schon hohen Alters von dreiundsiebzig Jahren nur zu bereitwillig von König Hieron II. zum militärischen Oberbefehlshaber über das Arsenal der Geschütze ernennen. Er entwickelte während der Belagerung eine Vielzahl von gewaltigen Katapulten und anderen Maschinen, deren Geschosshagel unter den Schiffen und Belagerungstruppen der Römer enormen Schaden anrichtete und viele Menschenleben kostete. Eine Zeit lang sah es sogar so aus, als könnte Archimedes allein mithilfe seiner Erfindungen die Einnahme von Syrakus verhindern. Dem war jedoch nicht so. Und dass er nach der Eroberung der Stadt unter dem Schwert eines römischen Soldaten starb, war nur folgerichtig. Der Schwerthieb des Legionärs galt nicht dem mathematischen Genie, das unter anderem die Integralrechnung, das Hebelgesetz und das Prinzip der Verdrängung entdeckt hat, sondern der tödliche Streich galt dem willfährigen Militär und begeisterten Waffenentwickler – und traf damit auch den Richtigen.« Und mit einem Anflug von Sarkasmus fügte er noch hinzu: »Seine Ermordung war übrigens der einzig entscheidende Beitrag der Römer zur Mathematik!«
Die beiden Männer auf der anderen Sitzbank, die unterschiedli cher kaum hätten sein können und die in diesem Moment jedoch Ähnliches dachten, sahen sich nach diesem gelehrten Kurzvortrag etwas verdutzt und befremdet an.
Dann wandte sich Horatio Slade wortlos ab und sah wieder hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft, während Alistair McLean einen Stoßseufzer von sich gab, irgendwie verdrossen auf das Kartenspiel in seiner Hand blickte und wie in Gedanken murmelte: »Und ich dachte, mich würde ein unterhaltsames Wochenende auf Pembroke Manor erwarten!«
2
D ie Kutsche folgte dem weiten Bogen, den die Landstraße um die vorspringenden Ausläufer eines Waldes schlug, und gelangte an ih rem Ende in eine lange Allee mit uraltem Baumbestand. Die Hufe der Rotfüchse pflügten hier durch einen knöchelhohen Laubteppich. Das laute Rascheln hatte viel Ähnlichkeit mit einer rauschenden Bugwel le.
»Da ist es! Pembroke Manor!«, stieß Alistair McLean aufgeregt her vor und tippte auf der linken Seite gegen das Fenster des Kutschenschlags. »Heiliger Joker! Seht euch das bloß mal an! Das nenne ich ein Herrenhaus! In dem irrwitzigen Kasten kann man sich bestimmt an jedem Tag des Jahres in einem anderen Raum aufhalten, sofern man sich in all den Zimmerfluchten und Gängen nicht heillos verirrt!«
Byron hatte im selben Moment aus dem Fenster geschaut und ebenfalls das Herrenhaus erblickt. Auch ihn befiel angesichts der ge waltigen Anlage von Pembroke Manor, die aus dem rauen grauen Kalkstein der Grafschaft errichtet worden war und von weitläufigen, kunstvoll angelegten Gartenanlagen umschlossen wurde, ein fast ungläubiges Staunen. Sein Blick fiel auf eine wahre Flut von kantigen Ecktürmen, zinnengekrönten Dächern, vorspringenden Erkern so wie auf ein tempelähnliches, säulengetragenes Portiko und dreiein halbstöckige Fassaden mit schier endlosen Reihen von hohen Spros senfenstern. Die drei Gebäudetrakte, aus denen das Herrenhaus be stand, ergaben zusammen den Grundriss eines H, wobei sich jedoch der alles dominierende Mittelteil mit dem hoch aufragenden Säulen portal über dem Treppenaufgang doppelt so lang erstreckte wie die beiden Seitentrakte.
Horatio Slade beugte sich nun auch vor, um einen ersten Blick auf das Anwesen ihres Gastgebers zu werfen. »Was für ein abstoßender architektonischer Bastard!«, sagte er mit einem Kopfschütteln. »Ein Sammelsurium verschiedenster Stilrichtungen, von denen jeweils nur das vulgär Protzige in den Bau geflossen ist! Nirgendwo auch nur eine Spur von würdiger Bemessenheit, geschweige denn von verfei nerter Schönheit und Harmonie der Linien!«
Das vernichtende Urteil dieses Mannes verblüffte Byron, der ihm eine solche blitzschnelle Auffassungsgabe und sachverständige Urteilsfähigkeit nicht zugetraut hätte. Denn wer immer vor rund zweihundert Jahren der Architekt dieses monströsen Bauwerks gewesen sein mochte, er oder sein Auftraggeber hatte sich in all den Jahren der Bauzeit nicht entscheiden können, ob es nun ein prunkvolles gotisches Schloss nach französischem Vorbild mit Anspielungen auf die Antike oder eine trutzige normannische Festung sein sollte. Letztlich war dabei ein architektonischer Zwitter herausgekommen, der bar jeglichen Ebenmaßes und harmonischer Linien war. Das
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