Die Judas Variante
noch den Jungen jemals wiedersehen würde.
Es war drei Uhr morgens.
Bailey stand am Fenster des Lazarettzimmers, hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und
schaute auf Athenas gedämpfte Straßenbeleuchtung und die stillen Gebäude hinaus. Dann hatten die
Blackcollars also doch nicht angegriffen. Sie hatten freilich auch keine Veranlassung dazu
gehabt; vor allem wenn man berücksichtigte, dass sie wohl noch immer darauf warteten, dass Poirot
ihnen die Daten für die Defensivlaser-Schwelle übergab. Andererseits wäre es durchaus
vorstellbar, dass das eine List war - dass sie ihn mit dieser Forderung in trügerischer
Sicherheit wiegen wollten, während sie die Garnison schon einen Tag früher als geplant
angriffen.
Aber das hatten sie nicht getan. Welche Schlüsse sollte er nun daraus ziehen?
»Oberst?«
Bailey drehte sich um. Der Vernehmungsbeamte, den er am frühen Abend hierhergebracht hatte,
beugte sich über die vollständig bandagierte Gestalt im Bett und legte das Ohr dicht an den Mund
des Jungen.
Der Junge. Bailey schüttelte den Kopf, während er sich wieder aufrichtete. Was auch immer
dieses Phoenix war, das Reger und Silcox erschaffen hatten, es hatte nicht einmal annähernd
Ähnlichkeit mit einer Armee, und alle Waffen und Blackcollars der Welt vermochten daran nichts zu
ändern. Und dieser Junge hatte gerade erst die Schule absolviert...
»Oberst!«
»Ja, ich höre Sie«, sagte Bailey mürrisch und spürte, wie er peinlich berührt errötete; mit einem
Kopfschütteln verscheuchte er die unliebsamen Gedanken. »Was gibt's denn?«
»Ich glaube, das möchten Sie mit eigenen Ohren hören, Sir«, sagte der Vernehmungsbeamte, setzte
sich gerade hin und wies auf den Stuhl auf der anderen Seite des Betts.
Mit gerunzelter Stirn setzte Bailey sich hin. Die Augen des Jungen waren geschlossen und die
Atmung war langsam, aber regelmäßig. »Machen Sie weiter«, sagte er zu dem
Vernehmungsbeamten.
Der andere nickte. »Rob?«, sagte er leise. »Rob, du musst meinem Freund hier auch sagen, was du
mir gerade gesagt hast.«
Zunächst bewegte der Junge sich nicht. Dann drehte er leicht den Kopf und öffnete die Augen
langsam zu Schlitzen. »Sie kennt ihn«, murmelte er. »Sie kennt den Weg ins Innere.«
Bailey hatte das Gefühl, als ob ihm jemand mit kalten Füßen über den Rücken stapfen würde. »Wer
kennt den Weg?«, fragte er und beugte sich über den Jungen.
»Anne«, sagte Rob. »Anne kennt ihn.«
»Anne Silcox?«
»Ja«, sagt der Junge. »Sie haben es ihr gesagt. Wissen Sie. Die Blackcollars.«
Bailey schaute zu dem Vernehmungsbeamten auf.
»Fragen Sie ihn, wohin der Weg führt«, empfahl der andere ihm leise.
Bailey schaute wieder auf den verwundeten Gefangenen. »Zu welchem Ort kennt Anne den Weg?«
»Das wissen Sie doch«, sagte Rob mit einer so leisen Stimme, dass man sie kaum hörte. »Zur Basis
Aegis. Aegis Mountain.«
Baileys Mund war plötzlich wie ausgedörrt. Ob Poirot am Ende doch recht hatte? »Kennst du den Weg dort hinein?«, fragte er.
»Nein«, sagte Rob. »Nur Anne. Und die Blackcollars.«
Bailey schaute dem Vernehmungsbeamten ins Gesicht. »Ich hoffe, das ist eine authentische
Aussage«, sagte er.
»Auf jeden Fall«, versicherte der Mann ihm. »Ich lege ihm doch nichts in den Mund.«
Bailey warf wieder einen Blick auf den im Halbschlaf liegenden Jungen. Dann gab es also doch
einen Weg dort hinein - einen Weg, den die Blackcollars anscheinend gefunden hatten.
Und just in diesem Moment arbeitete General Poirot am anderen Ende der Stadt zusammen mit der
taktischen Gruppe einen Plan aus, um einen oder mehrere ebendieser Blackcollars gefangen zu
nehmen. Zufall?
Bailey erhob sich abrupt. »Machen Sie weiter«, sagte er zu dem Vernehmungsbeamten, während er den
Mantel vom Kleiderhaken nahm. »Bringen Sie alles in Erfahrung, was er weiß, und ich meine damit
wirklich alles. Ich werde noch ein paar Leute zu Ihrer Unterstützung herschicken.«
»Das ist nicht nötig, Sir«, sagte der andere. »Ich schaffe das auch allein.«
Bailey schaute ihn an und verspürte dabei ein unangenehmes Kribbeln. Whiplash... »Ich schicke
noch ein paar Leute vorbei, die Sie unterstützen werden«, wiederholte er in einem Ton, der die
Ankündigung als Befehl deklarierte. »Und Sie werden niemandem außer ihnen und mir auch nur ein
Sterbenswörtchen davon sagen. Klar?«
Der Vernehmungsbeamte presste die Lippen zusammen. »Jawohl, Sir.«
Drei Minuten später saß Bailey in seinem Fahrzeug und
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