Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
sondern auf der Gestalt, die ihnen voranschritt.
»Eure Heiligkeit.«
Der Präfekt verneigte sich und küsste die ihm dargebotene Hand – den Ring des heiligen Petrus am Mittelfinger. Leise sagte Johannes XXVI .: »Zum Turm der Winde.«
Die Männer gingen den Weg zurück, den der Bibliothekar gekommen war. Kein Wort wurde gesprochen. Schließlich gelangten sie in den ältesten Teil des Gebäudes, den niemand aufsuchte, es sei denn auf ausdrückliche Anweisung des Pontifex. Der Präfekt war zum ersten Mal hier; seine Gäste desgleichen. Sie standen vor einer sehr alten, stark abgenutzten und mit Eisenbeschlägen versehenen Tür. Aus einer Tasche in seinem Gewand holte Pater Gabriele einen Schlüssel, den er normalerweise im Tresor seines Arbeitszimmers aufbewahrte. Er stocherte ein wenig im Schloss herum, dann sperrte er die Tür auf und öffnete sie. Eine steinerne, nach oben führende Wendeltreppe kam zum Vorschein. Während der Präfekt sie in dem Schummerlicht betrachtete, erfassten ihn zwei widerstreitende Gefühle. Das eine war eine starke Panik – Angst. Aber warum? Was befand sich an diesem entlegenen Ort, das Angst auslösen konnte? Er überlegte. Er konnte nichts erkennen, aber er spürte, dass etwas in dem Turm lauerte – ein verborgener Feind. Der Präfekt wandte sich um und sah die Kardinäle an; in ihren Gesichtern spiegelte sich die gleiche Unsicherheit. Auch sie hatten etwas gespürt. Gleich würden sie in etwas Unbekanntes eintreten, in ein spirituelles Mysterium – und ihr Unbewusstes erkannte es.
»Ich gehe voran«, sagte der Papst.
Es gab hier keine Lampen. Dies war so seit der Erbauung des Turms der Winde im Jahre 1581 – eine Brandschutzmaßnahme, da früher die geheimsten Dokumente der Kirche in dem Gebäude lagerten. In weiser Voraussicht hatte der Präfekt Taschenlampen mitgebracht. Er reichte sie seinen Gästen. Der Papst schaltete seine an und stieg die Treppe hinauf, seine Schritte hallten laut auf den Steinstufen. Die Gruppe der Kardinäle folgte ihm. Gleichzeitig rief sich der Präfekt in Erinnerung, was er über den Turm wusste. Er war auf Anordnung Papst Gregors XIII ., eines bedeutenden Mystikers, erbaut worden. Der Entwurf beruhte auf dem
Horologion
– ebenfalls Turm der Winde genannt –, der um das Jahr 65 vor Christus in Athen errichtet worden war. Der Turm verfügte über drei Stockwerke und war mit Wandgemälden des italienischen Künstlers Niccolò Circignani und anderer Maler geschmückt, darunter der Flame Matthijs Bril. Seltsamerweise war der Turm, nachdem er unter erheblichen Kosten errichtet und ausgeschmückt worden war, nie für öffentliche Anlässe genutzt worden. Stattdessen hatte er lange seltene Dokumente und Schriften beherbergt, die in großen Holzkisten verschlossen lagerten. Zudem war der Zutritt zu diesem Ort stets auf wenige Personen beschränkt gewesen. Das hatte sich im Laufe der Jahrhunderte noch verstärkt. Die meisten Würdenträger des Vatikans – selbst hochrangige – wussten nichts von dem geheimnisvollen Turm der Winde, nichts von einem unterirdischen Gang darunter, nichts von den Gebeinen eines Apostels, die er einst beherbergt hatte.
Im ersten Stock des Turms befand sich ein unter dem Namen Meridianzimmer bekannter kleiner Raum. Die Gruppe erreichte den ersten Treppenabsatz und betrat das Zimmer. Hier hatte Kardinal Benelli einst ein mystisches Erlebnis gehabt. Außer den Wandgemälden, die das Vergehen der Zeit darstellten, wies das Zimmer in den Boden eingravierte Tierkreiszeichen auf. Hier waren im 16. Jahrhundert die astronomischen Berechnungen für die gregorianische Kalenderreform vorgenommen worden. Die Kardinäle blieben stehen und blickten sich um – der Lichtschein ihrer Taschenlampen tauchte Ausschnitte der Wandgemälde in ein unheimliches Licht.
»Wir sollten weitergehen«, sagte der Papst.
Sie stiegen die steile Treppe ins nächste Stockwerk hinauf, wobei der Pontifex wieder voranging. Die Stille wurde immer stärker, das Licht der Taschenlampen, die sie in Händen hielten, schwächer. Jeder Schritt wirkte auf geheimnisvolle Weise auf die Sinne des Präfekten ein. Ihm war, als verließe er die Welt der Menschen und beträte eine spirituelle – als stiege er eine mystische Leiter hinauf. Tief in seiner Seele jedoch schlug sein Unterbewusstsein Alarm. Die Bewohner, die dieses Reich bewachten, hießen sie nicht willkommen; sie wollten verhindern, dass die Besucher in ein Mysterium eindrangen.
Plötzlich
Weitere Kostenlose Bücher