Die Juden von Zirndorf
solle keinen Schritt scheuen, ihn zu finden. Der Brief ist auf schwarzes Papier mit grüner Tinte in Eile hingekritzelt. Der Poststempel ist von einem Dorf im Hochgebirg. Gehen Sie mit mir nach Zirndorf. Ich kann jetzt nicht allein sein. Es sind so öde Strecken. Oder wir wollen einen Wagen nehmen. Bezahlen müssen Sie.«
Wie gebannt starrte Nieberding in das Gesicht des Lehrers. Fast willenlos nahm er den Hut und ging, sich von der Schwester zu verabschieden. Er fand sie am Fenster stehend. Befangen und schuldbewußt reichte er ihr die Hand und sagte, er komme bald wieder.
Sie schien zuerst nicht verstehen zu können. Dann nickte sie. Ihr Blick wandte sich fremd auf die dunkle Landschaft. Als Nieberding fort war, nahm sie ein Tuch, hüllte den Kopf damit ein, schlug mit einer krampfhaften Gebärde die Hände zusammen, dann legte sie einen Schlüsselbund und ihre Geldbörse auf das Bett und kurze Zeit darauf stand sie unter den noch kahlen Bäumen der abschüssigen Wasseranlagen. Sie beschleunigte ihren Schritt nicht. Sie ging immer langsamer, oft mit geschlossenen Lidern, mit einem Ausdruck im Gesicht, der ein Gemisch von Erwartung und Horchen war. Sie glich einer verwelkten Pflanze.
Sie hatte geglaubt, als sie von Hause ging, sie suche den Tod; aber jetzt bemerkte sie, daß es nicht der Tod war, den sie suchte. Das wurde ihr so jähe klar, daß sie fröstelnd stillstand und überlegte. Auf der Straße befand sich ein Lastwagen, und auf ihm waren trotz der Abendstunde, noch Leute damit beschäftigt, massive Eisenschienen auf Strohbolzen herabfallen zu lassen. Es gab ein hallendes Getöse, ein schrill-wuchtiges Klingen, das dem Geschrei einer fernen Volksmenge glich; in einer andern Straße spielten Kinder, als ob die Nacht gar keine Unterbrechung für ihr Spiel bringen würde; in einer andern Straße rauften zwei Dienstmänner und brachten ein Droschkenpferd zum Durchgehen. Das war gewöhnlich, aber für Cornely war es Leben. Sie kannte solches Leben nicht; jetzt jedoch sah sie das Leben über die Schürzen der Mädchen huschen, die über das Pflaster liefen; sie sah es tropfen von den Balkonen, wo man die Zimmerpalmen begoß; es kletterte in Gestalt einer Katze über die Zäune, es bellte als Hund, es läutete als Abendgeläut.
Mit jedem Schritt klammerte sie sich fester an diese neuen Vorstellungen. Sie dachte an Jeanette, an die Spiele, die sie als Kind mit ihr gespielt, und bekam plötzlich Sehnsucht, Jeanette zu sehen. Sie vergaß, daß Jahre seitdem hingegangen waren, und es kam ihr vor, als könne sie Jeanette treffen wie damals, wenn sie nur das Löwengardsche Haus betrete. Als sie aber wirklich vor dem Gebäude stand, schämte sie sich und kehrte seufzend um.
Sie kehrte um, nach Hause, setzte sich in Eduards Zimmer und dachte nach. Sie grübelte über sich selbst und durch welche Umstände und Fügungen sie zu dem geworden, was sie eben war. Es schien ihr, als ruhte die Lügenlast von Jahrhunderten auf ihr und drücke sie nieder, ersticke jede Freiheit, jeden Willen zur Freiheit. Unter all diesen Gedanken war auch einer, der sie zittern ließ. Zittern vor dem Reichtum, vor der Fülle, die sie jetzt umgaben. Ihr Vater war Sklavenhändler in Amerika gewesen. Dies war genug für sie, daß sie die Seelen Hingepeitschter in den Polstern versteckt sah, daß die Luft um sie herum erfüllt schien von aufbewahrten Rufen des Jammers und des Schreckens. Unwillkürlich erhob sie sich, als fürchte sie die Berührung mit dem Stoff des Sessels könne sie beschmutzen und ihre Bedrücktheit stieg bis zu einem kaum erträglichen Grad. Von einem Abgrund zum andern getrieben, haltlos, voll mystischer Sehnsucht und sinnlicher Begierde, glaubte sie, das Herz springe ihr unter dem wachsenden Druck entzwei. Fast mechanisch, wie ein Fallender nach einem Halt greift, nahm sie ein altes Buch aus dem Regal, schlug die Blätter um und ihr Blick fiel auf ein Gedicht. Es lautete:
Sag' mir an, du trübes Gespenst,
was du Wissen und Leiden nennst?
Sag' mir, du ruhige Finsternis,
warum Gott seinen Sohn verließ?
Sprich, du Himmel ohne Gnaden,
weshalb hat mich der Freund verraten?
O sprich, du lange Einsamkeit,
was ist Tod und was ist Zeit?
Da begann das trübe Gespenst:
Was du Wissen und Leiden nennst,
das ist kraft eines deutlichen Traumes;
das ist Spiel eines bunten Saumes,
Saum vom Kleide der Ewigkeit,
Kraft eines langerloschenen Lichts,
dies ist Wissen, dies ist Leid
und sonst nichts.
Sprach die ruhige
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