Die Juliette Society: Roman (German Edition)
Schlüssel zu seiner Wohnung, also gehe ich einfach rein.«
Jetzt verstehe ich auch, warum sie immer zu spät zu Marcus’ Vorlesungen kommt.
Bloß um ihn zu ärgern.
»Marcus wartet schon, wenn ich komme«, fährt sie fort. »Im hinteren Zimmer. Im Schrank. Hinter geschlossenen Türen. Und er ist so leise, so still, dass man meinen könnte, er sei gar nicht da. Als wäre ich allein im Zimmer. Das Rollo ist zu, und das Licht ist aus. Es ist so dunkel, dass man gerade noch etwas sehen kann.«
Der Schrank hat zwei Astlöcher in den Türen, sagt sie. Eines klein. Das andere größer. Eines auf Kopfhöhe, das andere weiter unten.
»Marcus behauptet felsenfest, es sei schon so gewesen, als er den Schrank gekauft hat«, meint Anna. »Aber das nehm ich ihm nicht ab.«
Wenn Anna zu ihm kommt, muss sie die Sachen tragen, die Marcus ihr gegeben hat. Jedes Mal dieselben Klamotten.
»Und wie sollst du dich anziehen?«, hake ich nach.
»Rate mal«, sagt sie.
»Wie eine Krankenschwester?«, tippe ich.
»Nö«, antwortet sie.
»Wie ein Schulmädchen?«
»M-mh.« Sie schüttelt den Kopf.
»Wie eine Nutte?«
»Ganz kalt«, winkt sie ab.
»Okay, spuck’s aus.«
»Wie seine Mutter.« Sie kichert.
Ich sehe sie überrascht an. Anna kann es kaum erwarten, mir mehr zu verraten. Sie erzählt mir, dass sie ein weites Kittelkleid mit Blumenmuster anziehen muss, flache Schuhe, hautfarbene Strümpfe und riesengroße Unterhosen, die sich anfühlen wie ein Keuschheitsgürtel aus Polyester. Sie trägt Klamotten, die Marcus’ Mutter gehört haben, die diese seit den Fünfzigern besessen und bis zu ihrem Tod getragen hat, die aber noch immer aussehen wie neu, wie direkt aus dem Regal.
»Ist dir das jetzt freakig genug? Oder schon zu abgefahren?«, fragt sie grinsend.
»So langsam …«, sage ich. Denn jetzt klingt Marcus schon weniger nach Jason Bourne, und das ist gut so. Es klingt jetzt auch weniger so, wie ich mir vorstelle, dass Jason Bourne fickt: Im Dunkeln, ohne die Socken auszuziehen. Missionarsstellung. Wie ein richtiger Mann.
Jetzt klingt Marcus eher nach Norman Bates, und das gefällt mir viel besser, weil ich wirklich total verrückt nach Anthony Perkins bin, seit ich zum ersten Mal Psycho gesehen habe und mich Hals über Kopf in seinen geschniegelten, zugeknöpften Preppylook verknallt habe. Das schmale, knochige Gesicht. Die ordentlich geschnittenen, perfekt frisierten, glänzenden pechschwarzen Haare. Die dunklen Augen. Das Lächeln. So was von heiß. Das Wissen, dass sich dahinter ein total verkorkster Psychokiller verbirgt, machte ihn nur noch verlockender. Es scheint, als sei Marcus vollkommen auf seine Mutter fixiert, genau wie Norman Bates oder Charles Foster Kane.
»Also, fassen wir zusammen«, sage ich zu Anna. »Du bist im Zimmer, angezogen wie eine prüde Hausfrau aus den Fünfzigern, und Marcus steht im geschlossenen Schrank und beobachtet dich durch eines der Löcher in der Tür.«
»Richtig«, sagt sie. »Und ich mache genau das, was er mir aufgetragen hat. Ich drehe ihm den Rücken zu und fange an, mich auszuziehen, exakt in der Reihenfolge, wie er es mir gesagt hat.«
»Immer auf die gleiche Art?«, frage ich.
»So ist es«, erwidert Anna. »Bis ins Detail durchchoreografiert. Ich fühle mich immer ein bisschen wie eine Stewardess, die die Sicherheitsbestimmungen demonstriert. Ich habe das jetzt schon so oft gemacht, dass es mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Manchmal schmücke ich das Ganze sogar mit meinen eigenen kleinen Einfällen aus, wenn ich der Meinung bin, das könnte ihm gefallen.«
Anna knausert beim Erzählen nicht mit Details, und ich sehe die Szene deutlich vor mir.
Erst zieht sie das Kittelkleid aus, das sie am Rücken aufknöpfen muss, schiebt es über die eine, dann über die andere Schulter und lässt es zu Boden gleiten. Sie steigt heraus und wirft dabei einen prüfenden Blick nach hinten auf ihre Fersen, wie um sicherzugehen, dass sich die Schuhe nicht im Saum verfangen haben. Sie löst die Haken ihres BHs und lupft ihn, sodass die Brüste in ihre natürliche Position fallen und dabei ein wenig wippen. Dann nimmt sie die Schultern leicht nach vorne, damit die Träger herunterrutschen.
»Er liebt es, wenn die Träger meine Arme hinuntergleiten«, sagt sie. »Und wie ich den BH auffange und vom Körper weg schwinge.«
Dann steht sie von der Taille aufwärts nackt da, in flachen Schuhen und hautfarbenen Strümpfen mit Strapsen. Ich stelle mir Annas fast nackten
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