Die Juliette Society: Roman (German Edition)
weil wir schon so lange hier sitzen.
»Habe ich jetzt deine Fantasien zerstört?«, fragt Anna. »Hoffentlich nicht. Eigentlich ist Marcus trotzdem echt süß.«
»O nein«, sage ich, »das hast du ganz und gar nicht.«
Jetzt will ich sogar noch mehr wissen. Ich habe das Gefühl, als könne ich in Marcus lesen wie in einem Buch und auf jeder Seite etwas Neues über ihn herausfinden. Ich wünschte, Marcus würde mir beibringen, was es heißt, ein Freak zu sein.
Doch dann wird mir klar, dass mir auch Anna in dieser Beziehung jede Menge beibringen könnte.
Je besser ich sie kennenlerne, desto mehr wird Anna meine beste Freundin, die mich und alles, was in mir vorgeht, versteht. Ich kann ihr alles erzählen, und sie sagt mir genau, was ich fühle und warum. Es ist, als wären wir zwei Köpfe mit einem Gehirn und einem gemeinsamen Bewusstsein. Manchmal beendet sie sogar meine Sätze, bevor ich sie überhaupt begonnen habe.
Wir ergänzen uns gegenseitig perfekt. Man könnte sagen, wir sind wie füreinander gemacht. Die Leute sagen, wir könnten Schwestern sein. Aber ich selbst sehe das anders. Anna ist mir in den meisten Dingen überlegen. Sie ist all das, was ich nicht bin.
Sie ist die Schöne. Ich die Intelligente.
Ich habe Grips. Sie ist beliebt.
Außerdem bringt sie mich zum Lachen. Sie hat nicht diesen Filter zwischen Kopf und Mund wie die meisten anderen Menschen. Manchmal fällt ihr Blick auf irgendeinen Typen aus unserem Kurs, und dann sagt sie plötzlich aus heiterem Himmel niedliche und völlig unangemessene Sachen wie:
»Ich frag mich, ob er beschnitten ist oder nicht.«
Und: »Ich würde sagen: Linksträger.«
Oder: »Ich wette, sein Sperma schmeckt nach Zitronengelee.«
Aber sie denkt nicht, dass es unangemessen ist. Für sie ist es bloß etwas, das in diesem speziellen Moment einfach gesagt werden muss. Da ist sie vollkommen authentisch, unkompliziert und frei. Für sie ist Sex so natürlich wie Atmen.
Ich mag Anna und alles an ihr so sehr, dass ich mir einen Vorwand ausdenke, damit Jack mich von der Uni abholt und wir zu dritt Mittagessen gehen können. Denn ich will unbedingt, dass er meine neue beste Freundin kennenlernt. Stolz stelle ich die beiden gegenseitig vor. Aber es läuft nicht ganz so wie geplant. Jack ist von Anna so eingeschüchtert, dass er ihr kaum in die Augen schauen kann oder mehr als ein paar Worte herausbringt. Er steht einfach nur da und überlässt mir das Reden. Eine peinliche Situation. Er findet bald einen Grund, um sich vom Acker zu machen.
Als ich abends nach Hause komme, spiele ich wieder unser Spiel, wild entschlossen, ihm aus der Nase zu ziehen, was er wirklich von ihr hält.
»Wie fandest du Anna?«, frage ich.
»Sie ist nett«, antwortet er.
»Findest du, dass sie hübsch ist?«, frage ich.
»Schätze schon«, antwortet er.
»Wenn du nicht mein Freund wärst, würdest du dann gern mit ihr zusammen sein?«, will ich wissen.
»Ich glaube nicht, dass ich ihr Typ bin«, meint er.
»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, erwidere ich.
»Doch«, sagt er.
»Ist sie denn dein Typ?«, hake ich nach.
»Könnte sein«, antwortet er.
»Sie hat hübsche Titten, findest du nicht?«, frage ich.
»Sicher«, sagt er.
»Gefällt dir ihr fester, runder Hintern?«, frage ich.
»Worauf willst du hinaus?«, erwidert er genervt.
»Na ja, würdest du gern mit ihr vögeln?«, necke ich ihn.
»Vielleicht«, sagt er.
Aber das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte.
5. Kapitel
Marcus hat uns sozusagen als Hausaufgabe eine Vorführung von Luis Buñuels Belle de Jour mit Catherine Deneuve organisiert.
Ich habe den Film noch nie gesehen. Ich weiß nichts darüber und habe keine Ahnung, was mich erwartet.
Ich sitze im Kino des Campusgeländes und bin nicht alleine, aber als die Lichter ausgehen und sich die Dunkelheit um mich legt, kommt es mir so vor. So schaue ich mir Filme am liebsten an. Im Kino, im Dunkeln, als persönliche Zwiesprache zwischen mir und der Leinwand. Es kommt nahe an die stille Versunkenheit heran, mit der man vor einem großartigen Gemälde steht, das einen vor Ehrfurcht verstummen lässt.
Wenn ich mir einen Film ansehe, möchte ich die Realität verlassen und auf eine Reise in eine andere Welt mitgenommen werden. Ich erwarte zumindest, dass ich unterhalten werde, mich mitreißen lasse oder entsetzt bin. Das letzte, womit ich rechne, ist, mich selbst auf der Leinwand zu sehen.
Man halte mich jetzt bitte nicht für vollkommen
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