Die Jungfernbraut
als wäre sie eine Verwandte.
Abbotsford Crescent war zu Fuß nur eine Viertelstunde vom Pfarrhaus entfernt. Colin war stehengeblieben, um Sinjun ein altes Denkmal aus der Zeit von James IV. zu zeigen, als plötzlich ein pfeifendes Geräusch zu hören war. Sinjun hatte sich gerade vorgebeugt, um die verwitterte Inschrift zu entziffern, und etwas schrammte an ihrer Wange entlang. Erschrocken sprang sie zurück und griff sich ans Gesicht. »Was war das?«
»Verdammt!« Colin zog sie zu Boden und warf sich beschützend über sie. Passanten starrten sie an und beschleunigten ihre Schritte, aber ein Mann kam auf sie zugerannt.
»Ein Kerl hat auf Sie geschossen«, berichtete er und spuckte vor Empörung aus. »Ich habe ihn gesehen. Er stand da drüben, beim Hutgeschäft. Ist alles in Ordnung, gnä' Frau?«
Colin half Sinjun auf die Beine. Sie preßte ihre Hand an die Wange, und zwischen ihren Fingern sickerte Blut hervor. Er fluchte laut.
»Oh, die Dame ist ja verletzt!« rief der hilfsbereite Herr. »Kommen Sie mit zu mir, ich wohne gleich da drüben in der Clackbourn Street.«
»Herzlichen Dank, Sir, aber wir wohnen selbst ganz in der Nähe, am Abbotsford Crescent.«
Sinjun stand förmlich zur Salzsäule erstarrt da, während die Männer Namen und Adressen austauschten, weil Colin sich später mit dem Augenzeugen unterhalten wollte. Jemand hatte auf sie geschossen. Es war unglaublich, unfaßbar. Sie verspürte noch immer keinen Schmerz, aber sie fühlte das nasse, klebrige Blut, und weil sie es nicht auch noch sehen wollte, preßte sie ihre Hand weiterhin auf die Wange.
Colin betrachtete sie mit gerunzelter Stirn und nahm sie dann einfach auf die Arme. »Leg den Kopf an meine Schulter und entspann dich.«
Sie tat, wie ihr geheißen.
Als Colin sie ins Haus trug, waren Douglas und Ryder unglückseligerweise auch gerade von ihrem Besuch im Schloß zurückgekehrt, und sobald sie sahen, daß ihre Schwester blutete, machten sie einen Riesenzirkus, bis es Sinjun zuviel wurde. »Schluß jetzt! Ich bin hingefallen, weiter nichts, und habe mir dabei das Gesicht aufgeschürft. Ungeschickt von mir, aber zum Glück war Colin bei mir und hat mich nach Hause getragen. Und wenn ihr jetzt endlich Ruhe gebt, könnte ich nachsehen, wie groß der Schaden ist.«
Natürlich gaben ihre Brüder keine Ruhe, sondern folgten Colin dicht auf den Fersen, der seine Frau in die Küche trug und auf einen Stuhl setzte. Sie konnte ihm ansehen, daß auch er sich daran erinnerte, wie sie ihn ihrerseits in der Küche des Londoner Hauses verarztet hatte.
Colin nahm Douglas, der warmes Wasser und Seife verlangt hatte, energisch das feuchte Tuch aus der Hand, nicht gewillt, seinem Schwager das Kommando zu überlassen. »Nimm die Hand weg, Joan.«
Sie schloß die Augen und gab keinen Laut von sich, während er das Blut abwusch. Die Kugel hatte ihre Wange nur gestreift, und Colin war heilfroh, daß die Wunde nicht allzu schlimm aussah, denn Joans Brüder beobachteten jede seiner Bewegungen, offensichtlich bereit einzugreifen, sobald er etwas machte, was sie nicht für richtig hielten.
»Es ist nur eine leichte Schramme«, sagte er.
Ryder schob ihn beiseite. »Wie eine Abschürfung sieht das nicht aus, aber ich glaube, daß keine Narbe Zurückbleiben wird. Was meinst du, Douglas?«
»Du glaubst doch wohl selbst nicht, Sinjun, daß ich dir abnehme, du hättest dir diese Verletzung bei einem Sturz zugezogen. Das ist weder eine Abschürfung noch eine Kratzwunde. Etwas muß deine Wange mit großer Kraft geschrammt haben.«
Sinjun lehnte sich stöhnend an Colin. »Es tut so weh. Entschuldige, Douglas, aber es tut wirklich scheußlich weh.«
Ihr Mann ergriff hastig die Initiative und betupfte die Wunde mit Alkohol, aber Sinjun stellte besorgt fest, daß Douglas sie nicht aus den Augen ließ und die Stirn runzelte.
»Mir geht es gar nicht gut«, behauptete sie. »Ich glaube, ich werde mich gleich übergeben müssen.«
Douglas' Miene verdüsterte sich nur noch mehr. »Seltsam, du bist doch sonst so hart im Nehmen.«
»Sie ist sehr müde«, kam Colin seiner Frau zu Hilfe. »Das kannst du doch bestimmt verstehen, Douglas.«
Eine Totenstille trat ein. Die beiden Brüder starrten abwechselnd ihren neuen Schwager und ihre kleine Schwester an — ihre kleine Schwester, die noch vor ganz kurzer Zeit ein unberührtes Mädchen gewesen war und sich nun in eine verheiratete Frau verwandelt hatte. Das war wirklich sehr schwer zu verstehen. Douglas stieß einen
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