Die Jungfrau Im Eis
Ein solcher Mann mochte jungen Frauen wohl gefallen. Was hatte er nur getan, um die Gunst Erminas wieder zu verlieren? Die Realität hatte, nach ihren Worten, die idyllischen Fantasien grausam zerstört. Schön - aber war das der Grund?
Freundlich lächelnd kam Prior Leonard mit seinen weit ausgreifenden Schritten dem Gast über den Hof entgegen, um ihn höflich zu begrüßen und zu den Ställen zu führen. Einer von Beringars Männern, der gerade nichts zu tun hatte und das gesattelte Pferd unversorgt da stehen sah, kam, um die Zügel zu nehmen, die Boterei ihm ohne hinzusehen wie einem Diener in die Hand drückte, bevor er mit dem Prior zu den Ställen ging.
Er war allein gekommen. Wenn er tatsächlich ein gestohlenes Pferd abholen wollte, so würde er es auf dem Heimweg am Zügel führen müssen.
Tief in Gedanken begab Bruder Cadfael sich zur Gästehalle und sah Ermina in ihrem Bauernkleid aus der Tür treten und schnell und leichtfüßig zur Kirche hinübergehen. Unter dem Arm hatte sie ein zusammengerolltes Bündel. Sie verschwand im düsteren Schatten der Kirche als ihr ehemaliger Verlobter in der Dunkelheit der Ställe verschwunden war. Yves würde gewiß am Bett von Bruder Elyas sitzen, seinem eifersüchtig gehüteten Patienten und Schützling, um den er sich mit besitzergreifendem Eifer kümmerte. Er war außer Sicht und außer Gefahr. Sollten hier Pfeile fliegen, dann konnte er nicht getroffen werden.
Ohne Eile trat Cadfael auf den freigefegten Hof und ging auf das Portal der Kirche zu, berechnete seine Geschwindigkeit jedoch so, daß er mit Evrard Boterei und Hugh Beringar zusammentreffen mußte, die von den Ställen zum Tor gingen.
Auch sie ließen sich Zeit und Boterei war offenbar bester Laune; der stellvertretende Sheriff neben ihm bot einen stattlichen Anblick. Hinter ihnen führte ein Stallbursche eine schöne, kastanienbraune Stute.
Vor dem offenen, dunklen Portal der Kirche, an der Stelle, an der ihre Wege sich kreuzen würden, blieb Cadfael stehen, so daß auch sie anhielten. Boterei erkannte den Bruder, der in Ledwyche nach seinen Wunden gesehen hatte und bedankte sich bei ihm.
»Ich freue mich zu sehen, daß Ihr wieder zu Kräften gekommen seid«, sagte Cadfael höflich. Er warf Beringar einen Blick zu, neugierig, ob er das wartende Pferd bemerkt hatte, das der Mann auf dem Hof auf-und abführte, wobei er ihm auf den Hals klopfte und seinen edlen Gang bewunderte. Beringars Augen entging nicht viel, aber seine Miene verriet nichts von seinen Gedanken. Cadfael hatte eine Ahnung. Eigentlich sollte er sich hier nicht einmischen, aber sein Instinkt trieb ihn, sich dieser Sache anzunehmen, die noch nicht aufgeklärt war.
»Ich danke Euch, Bruder. Es geht mir tatsächlich besser, ich bin schon fast ganz genesen«, antwortete Boterei lächelnd.
»Ihr habt mir nichts zu danken«, sagte Cadfael. »Aber habt Ihr Gott schon gedankt? Es wäre doch nur gerecht, wenn einer, der vor dem Tod errettet wurde und einen so wertvollen Besitz wie diese Stute wiedererlangt hat, für diese Gnaden Dank sagt.
So viele sind in den Kämpfen und Wirren ums Leben gekommen - ehrbare Männer und unschuldige Jungfrauen.«
Durch die offene Tür der Kirche sah er einen Schatten sich bewegen, der jedoch sogleich wieder reglos verharrte. »Ich bitte Euch, kommt mit mir in die Kirche und sprecht ein Gebet für diese weniger Glücklichen -auch für die, die wir hier vor ihrer Beerdigung aufgebahrt haben.«
Er fürchtete schon, zu viel gesagt zu haben und war erleichtert, als er sah, daß Boterei sich selbstbewußt und gelassen dem Portal zuwandte. Auf seinem Gesicht lag das leichte Lächeln eines Mannes, der der harmlosen Bitte eines Dieners Gottes mit einer kleinen Geste nachkommt.
»Aber natürlich, Bruder!« Warum auch nicht? Diese oder andere Mönche hatten sich um die Todesopfer eines jeden Raubüberfalls gekümmert und so war es kaum verwunderlich, wenn eines von ihnen jetzt aufgebahrt war. Unbekümmert stieg er die steinernen Stufen hinauf und betrat das dämmrige, kalte Kirchenschiff. Cadfael ging dicht hinter ihm und Hugh Beringar folgte ihnen, die dunklen Augenbrauen zusammengezogen, bis zur Schwelle, wo er stehenblieb und den Rückweg versperrte.
Nach der gleißenden Helle des vom Schnee reflektierten Sonnenlichts konnten sie hier drinnen einen Augenblick lang nichts sehen. Der weite, kalte, dämmrige Raum umschloß sie, das Ewige Licht über dem Altar sah aus wie ein sehr kleines, weit entferntes, feuriges
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