Die Druidengöttin
Erstes Kapitel
Wales, im August 1575
Dunkle Wolken hingen düster über dem saftigen Grün des weiten Landes. Der Nachmittag schien der Dämmerung gewichen zu sein. Nur hin und wieder erhellte ein Blitz den Himmel, um genauso schnell wieder zu verschwinden, wie er gekommen war.
Die achtzehnjährige Keely Glendower stand am Fenster und beobachtete, wie sich die Naturgewalten entluden. Das Unwetter, das vor der Burg heraufzog, entsprach dem Sturm, der sich in ihrem Herzen zusammenbraute. Welche Sorgen Keely quälten, war an ihren feingezeichneten Zügen abzulesen. Tiefe Trauer mischte sich mit einer Wut, die ihr das Atmen schwermachte.
Ihre wunderschöne, noch so junge Mutter lag im Sterben! Keely seufzte tief und verzweifelt. Ihr Herz kämpfte dagegen an, doch ihr Verstand sagte ihr, daß dies so war. Ihre sanfte, liebenswürdige Mutter starb.
Megan Glendower Lloyd lag in dem Zimmer nebenan im Bett und verblutete langsam an den Folgen einer Fehlgeburt. Ein letztes Mal hatte sie versucht, ihrem Ehemann einen zweiten Sohn zu schenken. Vergeblich. Nun blieb nichts mehr zu tun, als auf das Ende zu warten.
»Ist sie schon tot?«
Keely wirbelte herum beim Klang dieser Stimme. Ein Schauer lief ihr über den Rücken vor Abscheu, als ihr Blick auf ihren Stiefvater fiel.
Baron Madoc Lloyd stand in der Tür. Groß und kräftig wie er war, hätte der Baron ein gutaussehender Mann sein können, wäre da nicht diese unverhüllte Kälte in seinen grauen Augen gewesen.
Keelys Blick ruhte auf ihm. In ihren wunderschönen veilchenblauen Augen spiegelte sich nicht das geringste Erbarmen mit diesem Mann. Für sie war er schuldig am Tod ihrer Mutter.
»Bin ich bereits ein freier Mann?« dröhnte Madocs Stimme in ihren Ohren.
Der Zorn trieb Keely die Röte ins Gesicht. Sie hob die Hand und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf ihn, um ihm ihre Anklage entgegenzuschleudern. Doch bevor sie das erste Wort hervorstoßen konnte, zerriß vor dem Fenster ein gewaltiger Blitz den Himmel, und ein ohrenbetäubender Donner hallte in ihrem Zimmer wider.
»Verhexe mich nicht«, rief Madoc und bekreuzigte sich. Er machte auf dem Absatz kehrt und ließ die Tür laut krachend ins Schloß fallen.
Keely wollte ihm nacheilen, aber eine schwache Stimme hielt sie zurück.
»Überlasse ihn den göttlichen Gewalten«, hörte sie ihre Mutter sagen.
Keely lief hinüber zu der Todkranken und setzte sich auf den Stuhl, auf dem sie schon seit längerer Zeit am Krankenbett wachte. So traurig sie war, sie schaffte es, ihrer Mutter zuzulächeln.
»Was Madoc am meisten begehrt, wird ihm zuletzt das Leben kosten«, erklärte ihr Megan. »Glaube mir, ich habe es gesehen.«
Keely nickte. Alles, was ihre Mutter je gesehen hatte, war ausnahmslos eingetroffen.
»Es gab eine Zeit, als Madoc mich über alle Maßen liebte«, hub Megan an, und ihre Stimme wurde sanft, als sie sich der Erinnerung hingab. »Doch mein Herz gehörte deinem Vater. Und es gehört ihm noch immer.«
Daß sie von ihrem Vater sprach, überraschte Keely. Bisher hatte ihre Mutter sich standhaft geweigert, ihre Fragen über ihren leiblichen Vater zu beantworten, bis sie ihrerseits nicht mehr an dieses heikle Thema gerührt hatte. Nun hoffte sie, ihre Mutter würde ihr etwas über ihn erzählen. Sie hatte sehr lange darauf gewartet, etwas über ihn zu erfahren. Jetzt schien diese Zeit des Wartens vorüber zu sein.
»Du siehst mir ähnlich, doch die veilchenblauen Augen hast du von ihm«, fuhr Megan fort. »Immer wenn ich dir in die Augen blickte, sah ich ihn. Madoc brachte es nicht über sich, dir zu verzeihen, seine Tochter zu sein.«
»Reden wir weiter darüber, wenn du dich etwas ausgeruht hast«, unterbrach Keely sie, als sie erkannte, daß dieses Gespräch ihrer Mutter die letzten Kräfte raubte.
»Meine geliebte Tochter, ich stehe an der Schwelle zum Jenseits, und bald werde ich nicht mehr hier weilen«, erklärte ihr Megan. »Wenn der Hahn kräht, werde ich aufgebrochen sein zum Großen Abenteuer.«
Keely wollte ihrer Mutter gerade widersprechen, als diese sie zurechtwies. »Bestreite nicht, was ich gesehen habe. Lughnasadh, die Zeit der Eheschließung und Trennung, ist gekommen, und endlich werde ich frei sein von Madoc ... Bringe mir meine Sichel.«
Keely eilte zu der Truhe, in der ihre Mutter die kleine goldene Sichel aufbewahrte, mit der sie die Misteln in den riesigen Eichen schnitt. Einen Augenblick später setzte sie sich auf den Bettrand und reichte sie
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