Die Jungfrau Im Eis
aber hier und da waren immer noch flache, halb zugeschneite Vertiefungen zu erkennen. Als sie dem Felsmassiv näher kamen, verlangsamte er das Tempo, legte den Kopf in den Nacken und versuchte, mit seinen Augen den Dunst, der den Gipfel umgab, zu durchdringen. Er konnte keinen dunklen, viereckigen Umriß erkennen, obwohl die Felskante selbst undeutlich durch den Nebel auszumachen war. Wenn er den Turm nicht sehen konnte, dann bestand die Hoffnung, daß auch kein Wächter dort oben die heranrückenden Männer bemerkt hatte, obwohl sie in beträchtlicher Stärke durch offenes Gelände zogen. Aber es war besser, diesen Abschnitt des Weges so schnell hinter sich zu bringen und um die erste Kurve des sich hinaufschraubenden Weges zu gelangen.
Als sie nach dem langen, nicht sehr steilen Aufstieg die Stelle erreicht hatten, an der sich in den Felsen zu ihrer Linken der Spalt öffnete, ließ Hugh Beringar die Männer anhalten und schickte Späher aus. Kein lebendes Wesen regte sich hier oben, außer einigen Vögeln, die in der Luft kreisten. Der Felsspalt war so schmal, daß es aussah, als führe er nirgendwohin und ende bereits nach einigen Schritten.
»Wie bei den meisten Bergbächen«, sagte Cadfael, »wird der Spalt bis zur Quelle des Baches immer breiter. Es stehen viele Bäume dort, aber nach oben hin werden sie immer kleiner.«
Die Männer marschierten durch die Enge und verteilten sich zu beiden Seiten unter den Bäumen. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet, als Hugh Beringar im Schutz der am weitesten oben stehenden Bäume über die felsige, verschneite, hier und da mit spärlichem Gras bewachsene Fläche zu der Palisade hinübersah. Wenn nur ein Mann sich sehen ließ, würde drinnen sofort Alarm gegeben werden. Jenseits der Bäume gab es keine Deckung mehr. Und Cadfael sah mit Sorge, daß die Entfernung größer war, als er geglaubt hatte, groß genug jedenfalls, um die Reihen eines jeden Angreifers zu lichten, wenn es in dieser Festung Bogenschützen und Wachen gab.
Josce de Dinan betrachtete die Palisade und den massigen Turm. »Ihr habt doch nicht etwa vor sie aufzurufen, sich zu ergeben? Ich sehe jedenfalls keinen Anlaß dazu und es sprechen gute Gründe dagegen.« Das war auch Beringars Meinung. Warum sollte man das Moment der Überraschung aus der Hand geben, wenn es ihnen doch gelungen war, ihre Bogenschützen und Bewaffneten über den kümmerlichen Bogen der Baumdeckung zu verteilen, ohne bemerkt worden zu sein. Wenn sie auch nur die halbe Entfernung bis zur Palisade hinter sich bringen konnten, bevor die Bogenschützen aus dem Wehrgang zu schießen begannen, konnten sie einige Verluste vermeiden.
»Nein. Diese Männer haben gnadenlos geplündert und gemordet, und ich bin ihnen nichts schuldig. Wir müssen unsere Kräfte möglichst gut einsetzen und sie angreifen, bevor sie noch recht wissen, wie ihnen geschieht.«
Die Bogenschützen verteilten sich unter den Bäumen, die Fußsoldaten postierte er in drei Gruppen am Rand des Waldes und zwischen ihnen, in zwei Abteilungen, die wenigen Berittenen. Sie sollten auf das Tor zureiten, es einrammen und so den Fußsoldaten den Weg bahnen.
Als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, trat eine tiefe Stille ein. Dann preschte Hugh Beringar mit erhobenem Arm als Anführer der einen berittenen Abteilung vor, während rechts von ihm auch Dinan aus der Deckung brach und auf das Tor zustürmte. Die Fußsoldaten folgten ihnen, die Bogenschützen gaben eine Salve ab und schossen dann auf jeden Verteidiger, der sich hinter der Palisade zeigte. Cadfael, der bei den Bogenschützen geblieben war, wunderte sich, daß bei dem Angriff nur das Getrappel der Pferdehufe zu hören war, und auch das wurde durch den Schnee gedämpft. Aber schon im nächsten Augenblick wurde in der Festung Alarm gegeben.
Männer rannten durcheinander, besetzten die Schießscharten und ließen einen Pfeilhagel auf die Angreifer niedergehen. Aber die erste Attacke war fast erfolgreich gewesen, denn das Tor hatte offengestanden und als die Wachen die Flügel schlossen, hatten Beringar, Dinan und fünf oder sechs andere es bereits erreicht. Im Schutz des toten Winkels der Verteidiger auf dem Wehrgang bemühten sie sich mit aller Kraft, das Tor einzudrücken.
Drinnen eilten Männer herbei, stemmten sich gegen die Torflügel und versuchten, sie zu verriegeln, und das Durcheinander aus Befehlen und kopflosem Gerenne wogte hin und her wie Wasser auf einem sinkenden Schiff in stürmischer See. Das
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