Die Jungfrau Im Eis
hatte, schlug er Yves jetzt im Vorbeigehen auf die Schulter und stieg über die Leiter nach unten. Geschwind folgten ihm seine Männer. Guarin schloß die Falltür, und sie hörten beide, wie unten die Riegel vorgelegt wurden und der letzte Mann die Leiter hinunterkletterte.
Allein auf ihrer luftigen Plattform aus roh behauenen Balken sahen die beiden sich an. Die Luft war schneidend kalt und unter ihren Füßen knirschte gefrorener Schnee. Yves leckte sich getrocknetes Blut von der Lippe und sah sich nach der geschütztesten Stelle um. Der Turm war so gebaut, daß er hoch genug war, um eine möglichst weite Aussicht zu bieten, ohne allzu auffällig über die Felsen hinauszuragen. Die Schießscharten zwischen den Zinnen reichten Yves bis zur Brust. Er konnte sich etwas hinüberlehnen und nach allen Seiten sehen, aber nach hinten, zum Abgrund hin, war nur die Kante des Plateaus und dahinter, weit unten, das Tiefland zu erkennen. Diese Plattform hier oben war zu offen und ungeschützt, um bequem zu sein und Wind und Wetter konnten ihnen hier ungehindert zusetzen. Immerhin jedoch war es heute wenigstens nicht so kalt wie an den Tagen zuvor.
So weit er sehen konnte regte sich nichts, nur unten im Hof herrschte rege Betriebsamkeit: an jedem Beobachtungspunkt stand eine Wache und alle Schießscharten waren mit Bogenschützen besetzt. Von den Männern des Königs war nichts zu sehen. Yves suchte sich einen schneefreien, windgeschützten Winkel, setzte sich, den Rücken gegen die hölzerne Brustwehr gelehnt, auf die Bohlen und umfaßte seine Knie mit den Armen. Je niedriger er sich zusammenkauerte, desto weniger Wärme verlor er. Und Wärme war das, was er nun am dringendsten brauchte. Nicht anders allerdings ging es Guarin.
Er war keiner von den Schlechtesten, dieser Guarin. Yves hatte inzwischen viele der Männer in der engeren Umgebung des Anführers beobachtet und wußte, welchen von ihnen es Vergnügen bereitete, andere zu quälen und zu verletzen, bis sie sich vor Schmerzen wanden und um Gnade bettelten. Von denen gab es mehr als genug, aber dieser Guarin gehörte nicht zu ihnen. Der Junge hatte sogar herausgefunden, wie einige von ihnen zu den Räubern gestoßen waren und konnte die Schlimmsten von den Besten unterscheiden. Da waren die, welche aus freien Stücken Wegelagerer, Mörder und Diebe geworden waren und davon lebten, ihre Mitmenschen zu berauben. Andere waren kleine Taschendiebe und Betrüger, die vor der Strafe, die ihnen in der Stadt drohte, geflohen waren und hier Zuflucht gesucht hatten, wo selbst ihre Fertigkeiten Verwendung fanden. Wieder andere waren entlaufene Leibeigene, die sich wütend gegen Tyrannei aufgelehnt und sich so gegen das Gesetz gestellt hatten. Einige waren jüngere Söhne aus guter Familie oder Adlige ohne Land, die als Glücksritter zu dieser Bande gefunden hatten. Und auch ein paar Krüppel gab es, die vorher ehrliche Arbeit geleistet hatten und davongejagt worden waren, da man sie nicht mehr gebrauchen konnte; aber dies waren nur wenige, sie gehörten eigentlich nicht zu diesem Gesindel. Durch widrige Umstände waren sie hier gelandet und nun saßen sie in einer Falle, aus der sie keinen Ausweg sahen.
Guarin war ein großer, einfältiger, unbekümmerter Mann, dem nichts an Grausamkeiten lag. Soweit Yves es beurteilen konnte, hatte er gegen rauben, plündern und brandschatzen nichts einzuwenden, solange er nicht selber zu töten brauchte.
Er zog mit den anderen mit und tanzte nicht aus der Reihe, aber wenn es sich vermeiden ließ, vergoß er selber lieber kein Blut. Dennoch würde er seinen Befehlen gehorchen. Er sah keine andere Möglichkeit, sich einen Anteil an der Beute, Essen und Trinken, ein Dach über dem Kopf und einen Platz am Feuer zu sichern. Wenn sein Führer ihm befahl zu töten, dann würde er es ohne zu zögern tun.
Um sie herum wurde es heller. Die bittere Kälte hatte zwar noch nicht nachgelassen, aber ein Umschwung lag bereits in der Luft. Am frühen Nachmittag klopfte jemand an die Falltür, öffnete die Riegel und stieg mit einem Sack voll Brot und Fleisch und einem Krug mit warmem, gewürztem Bier für den Wächter aus dem nach Holz duftenden Dunkel des Turmes zu ihnen herauf. Das Essen reichte für zwei und Guarin gab seinem Gefangenen etwas davon ab. Da sie über die Vorräte von mindestens vier Höfen verfügten, brauchten sie an den Mahlzeiten nicht zu sparen.
Das Essen und das warme Bier halfen eine Zeitlang, aber im Verlauf der nächsten Stunden
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