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Die Jungfrau Im Eis

Die Jungfrau Im Eis

Titel: Die Jungfrau Im Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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massive Tor stand einen Spaltbreit offen. Es bebte und die heranstürmenden Fußsoldaten warfen sich dagegen, um es aufzubrechen.
    Plötzlich donnerte hoch über ihnen eine Stimme. »Halt dort unten! Männer des Königs oder was immer ihr sein mögt, steht still und seht, was ich hier habe! Seht her, sage ich! Zieht ab oder nehmt den Tod dieses Kindes auf euer Gewissen!«
    Innerhalb und außerhalb der Befestigung fuhren alle Köpfe herum und jedermann starrte auf die Spitze des Turms. Auf beiden Seiten verharrten die Bogenschützen mit gespannten Bogen. Schwerter und Lanzen wurden gesenkt. Von einer mächtigen Hand am Rücken festgehalten stand Yves zwischen zwei hölzernen Zinnen der Brustwehr. Neben ihm erschien das rasende Gesicht eines Mannes, dessen goldbraunes, langes Haar und gewaltiger Bart sich in einem launischen Wind bewegte, der unten kaum wahrnehmbar war. Eine bewehrte Hand hielt dem Jungen einen Dolch an die Kehle.
    »Seht ihr ihn?« brüllte der Löwe. Seine Augen funkelten wütend. »Wollt ihr ihn haben? Lebend? Dann zieht ab! Zieht euch außer Reichweite, außer Sichtweite zurück, oder ich schneide ihm die Kehle durch und werfe ihn euch hinunter!«
    Mit dem Schwert in der Hand, das er gezogen hatte, um es durch den immer größer werdenden Spalt zwischen den Torflügeln zu stoßen, sah Hugh Beringar hinauf. Sein Gesicht war bleich und starr. Yves stand stocksteif. Er sah weder nach unten noch nach oben, sondern geradeaus ins Leere und gab keinen Laut von sich.
    »Ich kenne Euch nicht«, antwortete Beringar langsam und ohne die Stimme zu erheben, »aber im Namen des Königs sage ich Euch, daß Ihr hier und überall friedlos seid. Wenn Ihr dem Jungen ein Haar krümmt, werde ich Euch persönlich mit Eurem Kopf dafür büßen lassen. Also nehmt Vernunft an.
    Kommt herunter und ergebt Euch mit Euren Männern. Dann, und nur dann, dürft Ihr auf Gnade hoffen.«
    »Und ich sage Euch: Geht mir mit Eurem Pöbelhaufen aus den Augen, jetzt gleich, ohne Widerrede oder Ihr bekommt dieses Schweinchen hier tot und ausgeblutet, fertig zum Braten!
    Nun, wird's bald? Geht! Soll ich Euch zeigen, daß ich es ernst meine?« Die Spitze des Dolches drang in die Haut ein. In der klaren Luft sahen sie eine Blutblase, die größer wurde, platzte und als kleiner Tropfen Yves' Hals herabrann.
    Wortlos stieß Beringar sein Schwert in die Scheide, bestieg sein Pferd und winkte allen seinen Männern, sich von der Palisade in den Schutz der Bäume zurückzuziehen, wo sie außer Sicht waren. Das tobende Gelächter hinter ihm hatte einige Ähnlichkeit mit dem hungrigen Brüllen eines Löwen.
    Die Bogenschützen und die zurückgebliebenen Männer hatten die Drohung vernommen und sich weit zurückgezogen.
    In bedrücktem Schweigen versammelte man sich unter den Bäumen. Dies war ein Patt. Sie wußten, daß sie nicht angreifen durften, aber der zu allem entschlossene Mann auf dem Turm konnte ebenso gewiß sein, daß sie nicht abziehen würden.
    »Wenn Ihr ihn auch nicht kennt, so kenne doch ich ihn«, sagte Josce de Dinan. »Er ist ein illegitimer Abkömmling eines der jüngeren Söhne der Lacys. Sein Bruder wurde durch die Heirat seines Vaters legalisiert und ist einer meiner Lehensmänner. Dieser hier hat einige Jahre lang in Frankreich für Normandie und gegen Anjou gekämpft. Weil er Linkshänder ist, nennt man ihn Alain le Gaucher.« Auch diejenigen, die den Mann jetzt zum erstenmal gesehen hatten, mußten nicht eigens darauf hingewiesen werden. Es war die linke Hand gewesen, die den Dolch an die Kehle des Jungen gehalten und kaltblütig mit der Spitze die Haut geritzt hatte.
    Die Faust, die seine Kleider am Rücken gepackt hielt und deren harte Knöchel schmerzhaft auf sein Rückgrat drückten, hob Yves hoch und setzte ihn hart auf der Turmplattform ab. Er spürte den Stoß bis in den Kopf und riß die Augen auf. Er hatte sich eben so angestrengt, keinen Ton von sich zu geben, daß er auf seine Zunge gebissen hatte und das Blut jetzt warm in seinen Mund lief. Er schluckte es hinunter und stellte seine zitternden Füße fest auf den Boden. Den kleinen Blutstropfen, der ihm den Hals hinabrann, beachtete er nicht. Er begann bereits zu trocknen.
    Noch nie hatte er solche Angst gehabt und noch nie war er so grob behandelt worden. Plötzlich hatte ihn der Anführer am Genick gepackt, ihn die gewundene Treppe in den dunklen, fensterlosen Turm geschleppt und ihn schließlich über eine senkrecht stehende Leiter und durch eine schwere

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