Die Jungfrau im Lavendel
Das Mädchen
Virginia Elisabeth Stettenburg-von Maray sah ihren Vater, genauer gesagt den Mann, den sie für ihren Vater hielt, zum letztenmal an dem Tag, an dem sie achtzehn Jahre alt wurde. Natürlich konnte sie nicht wissen, daß es das letztemal sein würde. Doch es fiel ihr auf, daß er schlecht aussah, die hagere Gestalt hielt sich nicht mehr so gerade wie früher, er ging leicht vornübergebeugt, das schmale, strenge Gesicht war blaß und von tiefen Furchen durchzogen.
Die grauen Augen blickten müde und gleichgültig, und sie fand auch diesmal nicht darin, wonach sie stets so sehnsüchtig gesucht hatte: eine Spur von Anteilnahme und Wärme, so etwas wie Zuneigung. Liebe vielleicht sogar.
Dennoch war es eine freudige Überraschung für sie gewesen, als ihr sein Besuch am Tag zuvor angekündigt wurde, nachdem sie sich bereits damit abgefunden hatte, daß sie ihren Geburtstag nur wieder mit den Schwestern und den wenigen Schülerinnen, die genau wie sie die Ferien im Kloster verbringen mußten, feiern würde.
Das waren wie immer Anna-Luisa, die Vollwaise war, und die Zwillinge Sabine und Barbara, deren Eltern, beide Ärzte, bei einem Forschungsteam in Afrika arbeiteten. Die Zwillinge waren nette, heitere Mädchen, aber mit ihrer gegenseitigen Gesellschaft so beschäftigt, daß man mit ihnen nicht wirklich befreundet sein konnte. Sie waren durchaus kameradschaftlich, aber man kam sich in ihrer Gesellschaft immer etwas überflüssig vor, nur eben gerade geduldet. Virginia, die sehr sensibel war, empfand es jedenfalls so.
Anna-Luisa war als Freundin denkbar ungeeignet. Dunkel wie ihr Haar und ihre Augen sei ihr Gemüt, so hatte Teresa es einmal ausgedrückt, die um treffende Formulierungen nie verlegen war. Teresa hingegen war echt und wirklich Virginias Freundin.
Nur hatte ihre Mutter sie schon in der vergangenen Woche abgeholt, um mit ihr stracks nach Italien zu fahren, auf das Landgut der Familie in der Toscana, wo Teresa wie jedes Jahr die Ferien verbringen würde. »Du mußt unbedingt einmal mitkommen, Gina«, hatte Teresa gesagt, aber dazu würde es wohl nie kommen. Zu einer Auslandsreise brauchte Virginia sicher die Erlaubnis ihres Vaters, und sie hätte es nie gewagt, ihn darum zu bitten. Sie hätte auch gar nicht gewußt, wie sie mit ihm in Verbindung treten sollte. Denn unverständlicherweise war es nicht erwünscht, daß sie sich, sei es auch nur mit einem kleinen Brief, direkt an ihn wandte. Eine Verbindung bestand nur über die Oberin.
»Er muß ein Unmensch sein, dein Vater«, hatte Teresa einmal erbost gesagt, Teresa, die ein so herzliches und zärtliches Verhältnis zu ihrer gesamten Familie hatte.
»Du darfst so etwas nicht sagen. Du kennst ihn ja gar nicht«, hatte Virginia, wenn auch zögernd, darauf erwidert.
»Ah, dio mio, mach nicht solch ein Engelsgesicht! Ich sage es, und ich meine es auch so. Und ich weiß natürlich, wer schuld daran ist. Dieses schreckliche Weib, mit dem er verheiratet ist, deine Stiefmutter. Sie will von dir nichts wissen.«
Virginia hatte geschwiegen. Das entsprach ja wohl der Wahrheit. Sie kannte die Frau ihres Vaters nicht, hatte sie nie zu Gesicht bekommen, und nie hatte diese Frau nach ihr gefragt, auch nur einen Gruß bestellt, geschweige denn sie einmal besucht. Warum das so war, wußte Virginia nicht.
In der Woche, die seit Teresas Abreise vergangen war, hatte Virginia Zeit genug gehabt, darüber nachzudenken, wie herrlich es sein müßte, mit Teresa zu verreisen. Einerseits. Andererseits wäre sie wohl vor Angst gestorben, sich so vielen fremden Leuten gegenüberzusehen. Und was Teresa betraf, so war es wohl nur dahingeredet und nicht ernst gemeint. Ihre Familie war ohnedies groß genug, sie besaß drei fabelhafte Brüder, und die Anzahl der österreichischen und italienischen Verwandten ließ sich sowieso nur schätzen. Bis heute hatte Virginia keinen klaren Überblick gewonnen.
»Addio, cara«, hatte Teresa zum Abschied gesagt und sie auf beide Wangen geküßt. »Sei nicht traurig. Es ist doch sehr hübsch hier vor den Bergen und in den Wäldern. Bei der nonna ist es immer gräßlich heiß. Hoffentlich fahren wir mal ans Meer. Aber da ist es im Sommer auch so überlaufen. Nichts als Touristen, und wenn Ferragosto erst beginnt, kann man kaum treten vor lauter Menschen. Das Schwimmbad in Gollingen ist viel hübscher. Geh öfter mal zum Baden. Und mal ein Eis essen. Und …« Viel mehr an Ferienfreuden für Virginia fiel ihr auch nicht ein.
»Laß
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