Die Kälte Des Feuers
bekam.«
Das stimmt nicht ganz, überlegte Holly stumm. Jim kam noch einmal hierher, neunzehn Jahre nach Lenas Tod, um Blumen auf ihr Grab zu legen.
»Wenn ich eine Möglichkeit fände, ihm alles zu erklären, wenn er mir doch noch eine Chance dazu gäbe …«
»Er ist hier«, sagte Holly und erhob sich erneut.
Ein schweres Gewicht aus Furcht zerrte an Henrys Gesicht, ließ es noch ausgemergelter erscheinen. »Hier?«
»Ja. Um Ihnen die Chance zu geben, die Sie sich erhoffen.« Holly atmete tief durch. »Möchten Sie, daß ich Sie zu ihm bringe?«
Weitere Krähen flogen herbei, und jetzt kreisten acht von ihnen am Himmel.
Einmal mitten in der Nacht, so trübe, während ich dachte, schwach und müde, an seltsame Dinge, in des Vergessens Grabe …
Während ich döste und fast schlief, ein Klopfen an der Tür mich rief,
ein leises Pochen, dumpf und tief,
>Nimmermehr, sprach der Rabe<, flüsterte Jim den wahrhaftigen Vögeln zu, nicht denen in Poes Gedicht.
Er hörte ein leises, rhythmisches Knarren, wie von einem sich drehenden Rad, und er vernahm auch Schritte. Als er aufsah, bemerkte er Holly, die den Rollstuhl seines Großvaters über den Weg zur Bank schob.
Vor achtzehn Jahren war er aufgebrochen, um das College zu besuchen, und während dieser Zeit hatte er Henry nur einmal gesehen. Zunächst hatte Jim ihn ab und zu angerufen, aber schließlich verzichtete er auch darauf und fand sich damit ab, daß kein Kontakt mehr existierte. Wenn Briefe kamen, warf er sie ungeöffnet fort. Er erinnerte sich nun daran - und auch an das Warum.
Jim wollte aufstehen, aber die Beine gaben unter ihm nach, und daraufhin blieb er sitzen.
Holly ließ den Rollstuhl vor der Bank stehen und nahm dann neben Jim Platz. »Alles in Ordnung?«
Er antwortete nicht und vermied es, seinen Großvater anzusehen. Statt dessen beobachtete er die Krähen, die unter den aschgrauen Wolken segelten.
Der alte Mann brachte es ebenfalls nicht fertig, den Blick auf Jim zu richten. Er betrachtete die Blumenbeete und erweckte den Eindruck, als sei er nur nach draußen gekommen, weil ihn die Blüten interessierten.
Holly wußte, daß es nicht einfach sein würde. Ihr Mitgefühl galt beiden Männern, und sie wollte alles versuchen, sie einander näherzubringen.
Zuerst mußte sie das dichte Unkraut der letzten Lüge jäten, die Jim ihr - vielleicht sogar bewußt - erzählt hatte. »Es gab keinen Verkehrsunfall, Schatz«, sagte sie und legte ihm die Hand aufs Knie. »Deine Eltern kamen nicht ums Leben, während sie auf der Straße unterwegs waren.«
Jim wandte sich von den Vögeln ab und musterte Holly mit nervöser Erwartung. Sie sah deutlich, daß er sich nach der Wahrheit sehnte und sie gleichzeitig fürchtete.
»Es geschah in einem Restaurant…«
Jim schüttelte langsam den Kopf.
»… in Atlanta, Georgia …«
Er wiederholte die Geste des stummen Leugnens, doch seine Pupillen weiteten sich. »…im Dixie Duck«, sagte Holly.
Die Erinnerung explodierte mit der Wucht einer Granate in ihm, und Jim beugte sich ruckartig vor, als müsse er sich erbrechen. Doch er würgte nicht. Statt dessen ballte er die Fäuste, schnitt eine Grimasse des Schmerzes und gab leise, unartikulierte Laute des Kummers und Entsetzens von sich.
Holly schlang ihm den Arm um die gebeugten Schultern.
Henry Ironheart sah sie an. »O mein Gott!« stieß er hervor, als er plötzlich begriff, in welchem Ausmaß sein Enkel die damaligen Ereignisse verdrängt hatte. »O mein Gott.« Als aus Jims gequältem Stöhnen ein Schluchzen wurde, starrte Henry Ironheart wieder auf die Blumen, auf seine fleckigen Hände, auf die Füße, auf die Räder des Rollstuhls, irgendwohin, um nicht Hollys Blick zu begegnen. Doch schließlich sah er auf. »Er bekam eine Therapie«, sagte er und versuchte, für seine Schuld zu sühnen. »Wir wußten, daß er eine Therapie brauchte. Wir brachten ihn mehrmals zu einem Psychiater in Santa Barbara, gaben uns alle Mühe. Aber der Spezialist - er hieß Hemphill meinte, mit Jim sei alles in Ordnung. Nach sechs Sitzungen behauptete er, Jim sei völlig gesund. Er hielt es nicht für nötig, die Behandlung fortzusetzen.«
»Was wissen solche Leute schon?« erwiderte Holly. »Wie hätte Hemphill helfen können, obwohl er den Jungen überhaupt nicht kannte, ihn nicht liebte?«
Henry Ironheart zuckte so heftig zusammen, als habe sie ihn geschlagen. Aber Hollys Bemerkung war gar nicht als eine Verurteilung seiner damaligen Entscheidung
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