Die Kälte Des Feuers
Ironhearts Hand los, holte ein Papiertaschentuch hervor, betupfte die Augen und putzte sich die Nase. Als sie ihrer Stimme wieder vertrauen konnte, sagte sie: »Jim gibt sich die Schuld am Tod seiner Eltern.«
»Ich weiß. Das war von Anfang an der Fall. Er sprach nie darüber, aber sein Verhalten machte deutlich, daß er sich verantwortlich fühlte, daß er sich für einen Versager hielt - weil er seine Eltern nicht gerettet hatte.«
»Aber warum? Er war doch erst zehn Jahre alt, ein kleiner Junge. Er hätte überhaupt nichts gegen einen Mann mit einer automatischen Waffe unternehmen können. Weshalb fühlt er sich schuldig?«
Für einige Sekunden wich der Glanz aus Henrys Augen. Die bereits schiefen Gesichtszüge verzerrten sich noch mehr und vermittelten tiefe Trauer.
»Ich habe oft versucht, mit ihm darüber zu reden«, erwiderte er schließlich. »Ich nahm ihn auf den Schoß, umarmte ihn und sprach leise auf ihn ein, so wie auch Lena. Aber er war zu verschlossen, blieb weiterhin eingekapselt, wies nie darauf hin, warum er. so heftige Vorwürfe gegen sich selbst erhob, warum er sich … haßte.«
Holly sah auf ihre Armbanduhr.
Jim war schon zu lange allein.
Aber sie konnte Henry Ironheart nicht ausgerechnet jetzt unterbrechen. Sie spürte deutlich, daß nun die wichtigste Offenbarung bevorstand.
»All die Jahre lang habe ich darüber nachgedacht«, fuhr der alte Mann fort. »Und vielleicht weiß ich nun, warum Jim damals auf diese Weise empfand. Aber als ich zu verstehen begann, war er bereits erwachsen, und schon vor langer Zeit hörten wir auf, über Atlanta zu sprechen. Um ganz ehrlich zu sein: Es herrschte praktisch nur noch Schweigen zwischen uns.«
»Was begannen Sie zu verstehen?«
Henry legte die schwache rechte Hand in die starke linke und starrte auf knotige, von den Fingerknöcheln gebildete Höcker. Er wirkte unsicher und schien sich zu fragen, ob er ihr das anvertrauen sollte, was er jemandem anvertrauen mußte.
»Ich liebe ihn, Henry.«
Er sah auf und begegnet ihrem Blick.
»Vorhin haben Sie vermutet, daß ich hierhergekommen bin, um zu erfahren, was sich in Atlanta abgespielt hat - weil Jim nicht darüber sprechen will«, sagte Holly. »Das stimmt in gewisser Weise. Aber es gibt auch noch andere Gründe, die mich zu Ihnen führen. Jim verweigert mir den Zugang zu einigen Bereichen seines Lebens. Er liebt mich wirklich, Henry, daran zweifle ich nicht, doch er errichtet auch Barrieren, die mich fernhalten sollen. Wenn ich ihn heirate, wenn es wirklich dazu kommt, möchte ich alles über ihn wissen - andernfalls haben wir nie die Chance, glücklich zu werden. Geheimnisse sind kein geeignetes Fundament für ein gemeinsames Leben.«
»Da haben Sie natürlich recht.«
»Erklären Sie mir, warum sich Jim für schuldig hält. Dieses Gefühl bringt ihn allmählich um, Henry. Wenn es für mich irgendeine Hoffnung geben soll, ihm zu helfen, so brauche ich Ihr Wissen.«
Der alte Mann seufzte und rang sich zu einer Entscheidung durch. »Was ich Ihnen jetzt sagen werde, klingt vielleicht wie abergläubischer Unsinn, aber es ist die reine Wahrheit. Ich schildere Ihnen nur die wichtigsten Dinge, denn wenn ich Einzelheiten hinzufüge, erscheint alles noch seltsamer. Meine Frau Lena hatte eine besondere Gabe. Ich nehme an, man könnte sie als Vorahnung bezeichnen. Sie war nicht imstande, in die Zukunft zu sehen und festzustellen, welches Pferd ein Rennen gewinnt oder was im nächsten Jahr geschieht. Nein, nichts in dieser Art. Aber manchmal … Nun, wenn man sie zu einem Picknick einlud, das am nächsten Sonntag stattfinden sollte, erwiderte sie plötzlich, daß es in einer Woche wie bei der Sintflut regnen würde. Und das war dann tatsächlich der Fall. Oder wenn eine Nachbarin ein Kind erwartete … Lena sprach dann von dem Ungeborenen als >er< oder >sie<, obgleich sie überhaupt nicht wissen konnte, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte - und sie behielt immer recht.«
Holly spürte, wie die letzten Stücke des Puzzles an den richtigen Platz rutschten. Als Henry ihr einen Sicher-halten-Sie-mich-jetzt-füreinen-alten-Narren-Blick zuwarf, nahm sie seine rechte Hand und drückte sie beruhigend.
Er musterte sie einige Sekunden lang. »Haben Sie bei Jim etwas Sonderbares erlebt, etwas, das Ihnen wie Magie erschien?«
»Ja.«
»Dann wissen Sie vielleicht, worauf ich hinauswill.«
»Ja, vielleicht.«
Erneut ertönte das Krächzen. Die alten Leute vor dem Fernseher reduzierten die
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