Die kalte Koenigin
wusste, was sie einst gewesen war. Was in Pythia, die zwischen zwei Brüdern stand und so Krieg über diese Königreiche gebracht hatte, war es denn, das ebenfalls solche Gefühle hervorrief? War es die Maske selbst? Handelte es sich bei ihr um eine so mächtige Vampyrin, dass er sich ihr aus irgendeinem Grunde beugte, obgleich sie ein Mischling war?
Oder war es schlicht und einfach Liebe? Und vermischt mit der Liebe, wie deren eigenes Mischlingsblut, der Hass und Zorn, die sich mit dem Besitz der Geliebten einstellten?
»Sie war seit vielen Jahren unsere Gefangene. Doch ich versuchte, ihr hier einige Freiheiten zu verschaffen. Für sie bedeutet Freiheit einen Anlass für Gemetzel und Diebstahl. Für sie bedeutet Freiheit, unser Volk zu entzweien und die Tempel zu entehren. Verstehst du? Es ist meine Schuld, dass sie so lange hier geblieben ist. Es ist auch meine Schuld, dass ich nicht erkannte, wer sie war, als sie die Ketzalpriester tötete. Ich kann sie... ich kann sie nicht vernichten. Ich kann sie nicht freilassen.« Er schloss die Augen, als wünschte er die Welt fort. Als er sie wieder öffnete, erkannte ich einen resignierten Ausdruck auf seinem Gesicht. »Sie hörte davon, dass du herkamest. Ich glaube, du bist derjenige, den sie fürchtet, obwohl sie dich nicht beim Namen nannte. In dir sieht sie das Ende ihrer eigenen Existenz. Außerdem war sie auch vor jemand anderem geflohen, vor jemandem, der sie in der Liebe betrogen hat.«
Ich wiederholte meine Frage. »Warum hältst du sie hier gefangen?«
Er sah mich an, als wünschte er, dass ich nie wieder danach gefragt hätte. »Als sie herkam, wusste ich, dass sie Kinder gebären kann. Unsere Frauen haben seit Jahrhunderten keine Nachkommen mehr zur Welt gebracht. Auch Ixtar ist nun unfruchtbar. Pythia wird meine Kinder gebären. Sonst wird sie der Auslöschung übergeben. Sie ist ein Gefäß für meinen Samen. Nichts weiter.« In seinen Worten lag eine Lüge, doch ich kannte sie nicht.
»Lass mich also die Maske von ihr holen, dann werde ich gehen«, sagte ich.
»Das«, entgegnete Nezahual, »ist unmöglich.«
Ich flog nach unten, zu den niedrigeren Tempeln der Stadt, und ließ mich auf einem Kuppeldach nieder, um die Sterblichen unter mir zu beobachten. Viele von ihnen waren Krieger, die ihre Speere und Schwerter schärften und miteinander Kriegsspiele spielten. Die Huren der Stadt stolzierten zwischen ihnen umher. Einige der Männer nahmen sich eine Dirne und zogen sie in die Schatten, um ihre Gelüste zu befriedigen. Selbst jetzt dachte ich noch zu viel über Pythia nach. Sie war ein Ungeheuer. Ich erinnerte mich gut daran, wie ich in jenem Turm von Hedammu, wo sie mich in ihre Gewalt gebracht hatte, die Kinderhand im Stroh erblickt hatte. Ich erinnerte mich an diesen kleinen Knaben, der einst wie zu einem Vater zu mir aufgeblickt hatte – ein Knabe, der durch seine Familie und ihre Armut der Hölle des Krieges überlassen worden war und der mir bis zum Rande meiner Verzweiflung gefolgt war. Zu diesem Knaben hatte ich eine solche Liebe empfunden,
wie ich sie sonst nur für meine Kinder empfand, die ich kaum je zu Gesicht bekommen hatte. Ich glaubte nicht, dass Vampyre die Unschuldigen abschlachten mussten. Ich verstand auch das eigene Gemetzel des Lebens nicht, wenngleich ich mich mehr als viele andere selbst daran beteiligt hatte.
Das Leben selbst war blutdurchtränkt, ob nun durch meinen Durst oder durch den Durst nach Macht und Herrschaft, nach denen Enora getrachtet hatte, oder auch durch jeden Menschen, der in Schlachten für Ideale kämpfte, während er den Feind niedermähte. Wir, die Vampyre, waren von dem Blut der Sterblichen durchtränkt, und für uns gab es keine solche Erlösung wie für die Menschen.
Ich hatte erfahren, dass Medhya keine Göttin war, sondern einfach eine Vampyrin der reinen Rassen, durch die wir auf die Welt gekommen waren. Doch gab es überhaupt eine Göttin? Einen Gott? Ich war erzogen worden, an Christus zu glauben, an Gott, an die Christenheit. Meine Mutter war dann zu den Alten Bräuchen des Großen Waldes sowie zu der Göttin und dem Gott jenes Reiches abgewandert. Und dennoch, was war diese Existenz anderes als Fleisch, das mit dem Geist kämpfte? Was lag jenseits des Schleiers, den Ungeheuern der Schöpfung? Gab es dort irgendeine Göttin, die uns erlösen könnte? Gab es dort einen Gott, der es vermochte, das Gute in uns zum Vorschein zu bringen?
Ich beobachtete die Sterblichen unter mir, mit ihren
Weitere Kostenlose Bücher