Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
vermutlich eher entspricht. Osiris ist der Gott der Toten und der Gott neuen Lebens. Um ihn wieder auf seinen Thron zu bringen –«
»Musstest du sterben«, vollendete ich den Satz. »Du wusstest, worauf du dich einlässt. Du hast Osiris mit Absicht beherbergt und wusstest, dass du sterben würdest.«
Ich zitterte vor Wut. Es war mir gar nicht klar gewesen, dass es mir so naheging, aber ich konnte nicht fassen, was mein Vater getan hatte. »Das hast du mit ›die Dinge in Ordnung bringen‹ gemeint?«
Der Gesichtsausdruck meines Vaters veränderte sich nicht. Er betrachtete mich immer noch voller Stolz und mit so ehrlicher Freude, als würde ihm alles, was ich tat, gefallen – selbst mein Geschrei. Ich hätte die Wände hochgehen können.
»Du hast mir gefehlt, Carter«, sagte er. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. Aber wir haben die richtige Entscheidung getroffen. Wir alle. Wenn ihr mich in der Welt oben gerettet hättet, wäre alles verloren gewesen. Dank euch haben wir zum ersten Mal seit Jahrtausenden die Chance der Wiedergeburt, die Chance, das Chaos aufzuhalten.«
»Es musste doch einen anderen Weg geben«, wandte ich ein. »Du hättest als Sterblicher kämpfen können, ohne … ohne –«
»Carter, als Osiris lebte, war er ein großer König. Doch als er starb –«
»Wurde er noch tausendmal mächtiger«, antwortete ich und mir fiel die Geschichte ein, die Dad mir immer erzählt hatte.
Mein Vater nickte. »Die Duat ist das Fundament der realen Welt. Wenn hier Chaos herrscht, hallt es in der Welt darüber wider. Osiris zu seinem Thron zu verhelfen war der erste Schritt und so viel wichtiger als alles, was ich in der Welt oben hätte ausrichten können – außer euer Vater zu sein. Und euer Vater bin ich noch immer.«
Mir brannten die Augen. Ich verstand schon irgendwie, was er uns erklärte, aber es gefiel mir nicht. Sadie schien sogar noch wütender zu sein als ich, aber sie blitzte Anubis böse an.
»Scharfe Zunge?«, hakte sie nach.
Dad räusperte sich. »Kinder, es gibt, wie ihr euch vielleicht denken könnt, natürlich auch noch einen anderen Grund für meine Entscheidung.« Er streckte seine Hand aus und neben ihm erschien eine Frau in einem schwarzen Kleid. Sie hatte goldenes Haar, kluge blaue Augen und ein Gesicht, das mir vertraut vorkam. Sie sah wie Sadie aus.
»Mom«, sagte ich.
Sie schaute erstaunt von Sadie zu mir, als wären wir Gespenster. »Julius hat mir erzählt, wie sehr ihr gewachsen seid, aber ich konnte es nicht glauben. Carter, du rasierst dich bestimmt –«
»Mom.«
»– und verabredest dich mit Mädchen –«
»Mom!« Ist euch auch schon mal aufgefallen, dass Eltern sich innerhalb von drei Sekunden von den wundervollsten Menschen der Welt in superpeinliche Leute verwandeln können?
Sie lächelte mir zu und ich kämpfte mit ungefähr zwanzig verschiedenen Gefühlen. Jahrelang hatte ich davon geträumt, wieder mit meinen Eltern zusammen zu sein, in unserem Haus in Los Angeles. Aber nicht so wie hier: wo das Haus bloß eine optische Nachwirkung war, meine Mutter ein Geist und mein Dad … wiederverwertet. Die Welt schien sich unter meinen Füßen zu bewegen und in Sand zu verwandeln.
»Wir können nicht zurück, Carter«, erklärte meine Mutter, als könne sie meine Gedanken lesen. »Aber nichts ist verloren, auch im Tod nicht. Erinnerst du dich noch an den Erhaltungssatz?«
Es war sechs Jahre her, dass wir zusammen im Wohnzimmer gesessen hatten – in genau diesem Wohnzimmer, und sie hatte mir die physikalischen Gesetze vorgetragen, wie andere Eltern Gutenachtgeschichten vorlesen. Aber ich erinnerte mich immer noch daran. »Energie und Masse können weder erschaffen noch zerstört werden.«
»Bloß verändert«, bestätigte meine Mutter. »Und manchmal zum Guten verändert.«
Sie ergriff Dads Hand und ich muss zugeben – blau und geisterhaft oder nicht –, sie sahen schon ziemlich glücklich aus.
»Mom.« Sadie schluckte. Zum ersten Mal galt ihre Aufmerksamkeit nicht Anubis. »Hast du wirklich … war das –?«
»Ja, mein tapferes Mädchen. Meine Gedanken haben sich mit deinen vermischt. Ich bin so stolz auf dich. Und dank Isis hab ich das Gefühl, dich genauso gut zu kennen.« Sie beugte sich vor und lächelte verschwörerisch. »Ich mag Schokobonbons auch, obwohl deine Großmutter nichts davon hielt, Süßigkeiten im Haus zu haben.«
Sadie grinste erleichtert. »Ich weiß! Sie ist unmöglich!«
Vermutlich hätte sie stundenlang so
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