Die Kartause von Parma
Gefühl hatte, Fabrizzio sei gewissermaßen im Recht. Sie geriet sogar ins Schwanken, ob sie nicht ihr Gelübde brechen müsse. Dann hätte sie Fabrizzio bei Tage empfangen können wie jeden anderen aus der Gesellschaft, und der Ruf seiner Tugendhaftigkeit war viel zu fest begründet, als daß daraus schlimmes Gerede entstehen konnte. Sie sagte sich, durch viel Geld könne sie sich von ihrem Gelübde entbinden lassen, aber sie fühlte auch, daß eine so weltliche Erledigung ihr Gewissen nicht beschwichtigen könne, und vielleicht würde sie der Groll des Himmels wegen dieser neuen Sünde strafen.
Aber wenn sie auch einem so natürlichen Wunsche Fabrizzios willfahrte, wenn sie auch alles andere als das Unglück jener liebevollen Seele wollte, die ihr so vertraut war und deren Friede durch ihr Gelöbnis so seltsam gefährdet ward: unter welcher Maske sollte der einzige Sohn eines italienischen Grandseigneurs entführt werden, ohne daß der Betrug herauskam? Der Marchese Crescenzi würde Unsummen daransetzen, würde die Nachforschungen persönlich leiten, und früher oder später würde die Tat aufgedeckt. Es gab nur einen Weg, dieser Gefahr vorzubeugen: man hätte das Kind weit weg bringen müssen, etwa nach Edinburg oder nach Paris, aber dazu konnte sich die zärtliche Mutter nicht entschließen. Ein anderer von Fabrizzio vorgeschlagener Ausweg, und wirklich der vernünftigste, hatte in den Augen der fassungslosen Mutter eine unselige Vorbedeutung und noch Schlimmeres an sich. »Man müßte eine Krankheit vorschützen,« meinte Fabrizzio, »das Kind müßte mehr und mehr dahinsiechen, und während einer Reise des Marchese Crescenzi müßte es angeblich sterben.«
Clelias Widerwille, der sich bis zum Entsetzen steigerte, verursachte eine flüchtige Entzweiung. Clelia behauptete, man dürfe Gott nicht versuchen. Dies so heißgeliebte Kind sei die Frucht einer Sünde, und Gott werde es ohne Gnade wieder zu sich nehmen, wenn man seinenhimmlischen Zorn herausfordere. Wiederum sprach Fabrizzio von seinem absonderlichen Schicksal. »Der Beruf, den mir der Zufall gegeben hat,« sagte er zu Clelia, »und meine Liebe verpflichten mich zu ewiger Einsamkeit. Ich darf nicht wie die meisten meiner Standesgenossen die Freuden vertrauter Geselligkeit genießen, da du mich nur im Dunkeln empfangen willst. Das drängt unser gemeinsames Leben sozusagen auf Augenblicke zusammen.«
Es wurden reichlich Tränen vergossen. Clelia ward krank, aber sie liebte Fabrizzio allzusehr, als sich beharrlich zu weigern, das schreckliche Opfer zu bringen, das er von ihr erbat. Sandrino wurde angeblich krank. Der Marchese ließ schleunigst die berühmtesten Ärzte holen. Damit trat eine unvorhergesehene Schwierigkeit ein. Clelia mußte das angebetete Kind davor behüten, daß es die von den Ärzten verschriebenen Heilmittel einnahm. Das war nicht leicht.
Das Kind, das länger, als es seiner Gesundheit dienlich war, im Bette blieb, erkrankte wirklich. Man konnte doch dem Arzt die wahre Ursache dieses Übels nicht sagen! Von zwei sich widerstreitenden, ihr gleich teueren Neigungen hin und her gerissen, war Clelia nahe daran, den Verstand zu verlieren. Sollte man die augenscheinliche Genesung zugeben und damit die Frucht einer so langwierigen und schmerzlichen Täuschung preisgeben? Fabrizzio konnte sich weder verzeihen, daß er gewaltsam auf das Herz seiner Freundin eingewirkt hatte, noch auf seinen Plan verzichten. Er hatte Mittel und Wege gefunden, alle Nächte das kranke Kind besuchen zu können. Das führte zu neuer Verwicklung. Die Marchesa kam, um nach ihrem Kinde zu sehen, und so war es nicht zu umgehen, daß Fabrizzio sie im hellen Licht der Kerzen erblickte. Das empfand Clelias armes wundes Herz als grausige Sünde und wie eine Prophezeiung von Sandrinos Tod. Vergeblich erklärten die berühmtesten Kasuisten, die man über die Treue gegen ein Gelübde befragte,in dem Falle, wo das treue Einhalten offenbar Schaden anstiften mußte, sei ein Gelübde nicht in sündhafter Weise als gebrochen, anzusehen, wenn die durch ein Gelöbnis gegen Gott verpflichtete Person es nicht aus eitler Sinnenlust, sondern zur Abwendung eines unleugbaren Übels bräche. Die Marchesa blieb trotzdem verzweifelt, und Fabrizzio verhehlte sich die Möglichkeit nicht, daß sein wunderlicher Einfall Clelias Tod und den seines Sohnes zur Folge haben könne. Er nahm seine Zuflucht zu seinem Busenfreund, dem Grafen Mosca. Der greise Minister war gerührt von dieser
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