Die Kartause von Parma
dies erkannt, indem er in seinem erwähnten Essay schreibt: ›Wenn Machiavell dazu verdammt wäre, im Italien des neunzehnten Jahrhunderts zu leben, dann hätte er diesen Roman geschrieben.‹
An zahlreichen Stellen des Romans leuchten eigene Erlebnisse Beyles hindurch. Ein Beispiel: In seinem merkwürdigen selbstverfaßten ›Nekrolog‹ von 1837 sagt er: ›Gina hinderte mich, bei der Rückkehr Napoleons (am 1. März 1815), die ich am 6. März erfuhr, zu den Fahnen zu eilen.‹ Vermutlich meint er hier Gina (Angelina) Pietragrua, und man geht kaum fehl, wenn man in der so lebensprühenden Gestalt der Duchezza ein Denkmal erkennt, das der alternde Dichter jener nie vergessenen schönen Mailänderin gesetzt hat. Auf viele andere Reminiszenzen wird in den Anmerkungen aufmerksam gemacht, vor allem auch auf interessante Parallelen zwischenden Taten und Meinungen der Romangestalten und Stendhals Theorieen in seinem berühmten Buche ›Von der Liebe‹. Wie alle Bücher Beyles ist auch die ›Kartause‹ eine Konfession.
Stendhal mischt Dichtung und Wahrheit,wie es das Recht jedes Dichters ist. Er arbeitet nach Modellen, verändert sie aber nach Laune und Notwendigkeit. Es liegt ihm wenig daran, Porträts zu schaffen. Aber nicht allein Gestalten des Lebens und der Geschichte schweben ihm bei seinen Schöpfungen vor, auch solche aus Gemälden, die Eindruck auf ihn gemacht haben. So erwähnt er selber zweimal die ›Tochter der Herodias‹ von Lionardo da Vinci (richtiger: von Bernardino Luini). Recht glücklich nennt Barbey d'Aurevilly die Duchezza di Sanseverina die ›Mona Lisa der Literatur‹. Und ist die liebliche Clelia Conti nicht dem Rahmen eines Bildes von Correggio oder Guido Reni entstiegen?
Angeregt von einigen Ausstellungen, die Balzac gemacht hatte, entschloß sich Beyle zu einer Umarbeitung seiner ›Kartause‹. Er ließ sich im Herbst 1840 ein Exemplar des Romans mit Schreibpapier durchschießen und machte sich sodann an die Arbeit. Diese vier Bände sind nach Beyles so baldigem Tode in den Besitz der Familie Crozet gekommen und im Jahre 1869 zusammen mit noch anderen Stücken des Stendhalschen Nachlasses von einem Herrn Eugen Chaper in Eybens (Isère) erworben worden; jetzt besitzt sie Herr P. Royer. In diesem Exemplar hat Beyle eine große Menge textlicher Änderungen vorgenommen, hier einen Ausdruck geändert, dort ein paar Worte gestrichen, da hinzugesetzt, und so weiter. Die beabsichtigte völlige Umarbeitung des Romans bieten diese durchschossenen Bände nicht. Hingegen lassen die zahlreichen Notizen darin ziemlich deutlich erkennen, wie sich Beyle die neue Gestaltung der ›Kartause‹ gedacht hat.
Durch Erweiterung des letzten Viertels der vorliegenden Fassung sollte der Roman auf den Umfang von dreigleichstarken Bänden gebracht werden. In einer Randbemerkung des Royerschen Exemplares heißt es: ›Meinem Verleger Dupont graute es vor der Dickleibigkeit des zweiten Bandes meines Manuskriptes oder gar vor einem dritten Bande. Aber ich muß die Charakterentwicklung der Clelia wieder so breit geschildert herstellen, wie sie ursprünglich war, ehe Dupont mich veranlaßte, sie zusammenzusäbeln. So wie Clelias Liebe jetzt geschildert ist, wirkt sie langweilig. Es fehlen ein paar zarte, rührende Szenen ... Clelia kann der leibhaftigen Gegenwart Fabrizzios nicht widerstehen. Ihre Tugend hatte ihren Halt nur in seinem Fernsein ... Ich war im März 1839 mißlaunig, und Dupont jammerte bereits bei Seite 364 maßlos ...‹ Der zweite, stärkere Band der Erstausgabe, der mit Kapitel 14 beginnt, hat 445 Seiten.
Der umgearbeitete Roman sollte offenbar mit Fabrizzios Erlebnissen auf dem Schlachtfelde von Waterloo beginnen. Damit wäre die Komposition gedrungener geworden. Die Erlebnisse der Gräfin Pietranera bis 1815 wollte Stendhal den Obersten Lebaron erzählen lassen. In der vorliegenden Fassung tritt dieser Oberst nur in der Episode an der Sainte-Brücke (S.80 ff.) auf; in der Neubearbeitung sollte Fabrizzio während seines Aufenthaltes in Amiens (S.91 f.) in das Haus des Obersten kommen. Ein Bruchstück der Erzählung Lebarons hat Casimir Stryienski im Nachlasse Beyles in der Grenobler Bibliothek aufgefunden und veröffentlicht. Wieder in Paris (S.92), sollte Fabrizzio im Foyer der Großen Oper den Großfiskal Rassi und den Cavaliere Riscara, die Ranuccio Ernesto als Spione nach Paris entsandt hat, kennen lernen. ›Fabrizzio fällt ihr italienisches Aussehen und ihr Mailänder Dialekt auf, den die
Weitere Kostenlose Bücher