Die Kartause von Parma
beiden jungen Männern war ungemein rührend. Welchen liebenswürdigen Vorwand Fabrizzio auch ersinnen mochte, um keinen Preis nahmen sie Geld an.
»In Ihrer Lage, mein Herr, haben Sie es nötiger als wir«, erwiderten die biederen jungen Leute immer wieder. Schließlich schieden sie von Fabrizzio. Er gab ihnen Briefe mit, in denen er, durch die Aufregung der Reise begeistert, den Versuch machte, seinen Wirtsleuten zu sagen, wie sehr er sich in ihrer Schuld fühle. Fabrizzio hatte mit tränenden Augen geschrieben, und aus dem an Ännchen gerichteten Brief sprach wirklich etwas Liebe.
Die weitere Reise brachte nichts Besonderes. Als er in Amiens anlangte, begann die Stichwunde im Oberschenkel von neuem tüchtig zu schmerzen. Der Landarzt hatte es unterlassen, die Wunde ordentlich zu reinigen, und so hatte sich trotz dem Aderlasse ein Eiterherd gebildet. Während der vierzehn Tage, die Fabrizzio in Amiens in einem Gasthof bei liebedienerischen und habsüchtigen Leuten zubrachte, drangen die Verbündeten in Frankreich ein. Fabrizzio ward geradezu ein anderer Mensch, so tief grübelte er über die Dinge nach, die er in der letzten Zeit erlebt hatte. Nur in einem Punkte war er ein Kind geblieben: War das, was er gesehen hatte, eine Schlacht? Und war diese Schlacht die von Waterloo?
Zum ersten Male in seinem Leben empfand er Vergnügenbeim Lesen; immer hoffte er, in den Zeitungen oder in den Schlachtberichten irgendeine Schilderung zu finden, in der er die Gegend wiedererkannte, die er im Gefolge des Marschalls Ney und später mit dem anderen General durchritten hatte.
Während seiner Rast in Amiens schrieb er fast alle Tage an seine lieben Freunde in der ›Prelle‹. Sobald er hergestellt war, ging er nach Paris, wo er in seinem früheren Hotel zwanzig Briefe von seiner Mutter und seiner Tante vorfand, die ihn inständig baten, so schnell wie möglich heimzukehren. Der letzte Brief der Gräfin Pietranera enthielt eine gewisse rätselhafte Stelle, die ihn stark beunruhigte. Sie vernichtete alle seine zärtlichen Träumereien. Bei Menschen seines Schlages ist ein einziges Wort imstande, sie zum größten Schwarzseher zu machen. Seine rege Phantasie malte sich alsbald ein Unglück mit den gräßlichsten Einzelheiten aus. ›Hüte Dich wohl,‹ schrieb die Gräfin, ›die Briefe, in denen Du uns Nachrichten von Dir gibst, mit Deinem Namen zu zeichnen. Auf der Heimreise darfst Du nicht gleich über den Comer See kommen; bleibe zunächst in Lugano auf Schweizer Boden ...‹ Er sollte in dieser kleinen Stadt unter dem Namen Cavi rasten; dort würde er im besten Gasthof den Kammerdiener der Gräfin vorfinden, von dem er weitere Verhaltungsmaßregeln erhalte. Seine Tante schloß mit folgenden Worten: ›Mit allen nur möglichen Mitteln verbirg die Torheit, die Du begangen hast. Und trage vor allen Dingen keinerlei bedruckte oder beschriebene Papiere bei Dir. In der Schweiz wirst Du von Freunden der Santa Margherita [Santa Margherita: Silvio Pellico hat diesem Namen europäischen Ruf verliehen; es ist der jener Straße in Mailand, wo sich der Polizeipalast und das Gefängnis befinden. (Stendhal.)] umringt sein. Sobald ich genug Geld habe, werde ich jemanden nach Genf in das ,Hôtel des Balances' schicken, durch den Du Einzelheiten erfahren wirst. Ich kann sie Dir jetzt nicht mitteilen. Du mußt sie aber wissen, ehe Du ankommst. Aber um Gottes willen, verweile keinen Tag länger in Paris! Du würdest dort von unseren Spionen erkannt.‹
Die seltsamsten Bilder spukten in Fabrizzios Kopf, under war zu jedem anderen Zeitvertreib unfähig, außer zu dem, darüber nachzugrübeln, was seine Tante ihm so Wichtiges mitzuteilen habe.
Auf seiner Fahrt durch Frankreich wurde er zweimal angehalten, aber er wußte sich durchzuschwindeln. Diese Unannehmlichkeiten verdankte er seinem italienischen Paß und seiner sonderbaren Eigenschaft als Barometerhändler, zu der sein jugendliches Gesicht und sein verbundener Arm nicht gerade paßten.
Endlich fand er in Genf einen Mann aus der Dienerschaft der Gräfin, der ihm erzählte, daß er, Fabrizzio, bei der Mailänder Polizei angezeigt sei, und zwar, weil er Napoleon Vorschläge zu einer großen, sich über das ganze ehemalige Königreich Italien erstreckenden Verschwörung überbracht habe. Wozu, hieß es in der Anzeige weiter, habe er sonst auf seiner Reise einen falschen Namen angenommen? Seine Mutter wolle versuchen, den wahren Sachverhalt zu beweisen, das heißt, erstens, daß er niemals
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