Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kartause von Parma

Die Kartause von Parma

Titel: Die Kartause von Parma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
Vom Netzwerk:
die Schweiz verlassen, zweitens, daß er das Schloß urplötzlich nach einem Zwist mit seinem älteren Bruder verlassen habe.
    Bei dieser Nachricht überkam Fabrizzio ein stolzes Gefühl. »Ich soll eine Art Gesandter bei Napoleon gewesen sein!« sagte er sich. »Ich soll die Ehre gehabt haben, mit diesem großen Mann zu sprechen! Hätte es Gott so gefallen!« Er erinnerte sich, daß sein Vorfahr in der siebenten Generation, der Enkel jenes Dongo, der im Gefolge Sforzas nach Mailand gekommen war, die Ehre gehabt hatte, von den Feinden des Herzogs erwischt und geköpft zu werden, als er nach der Schweiz ging, um den löblichen Kantonen Vorschläge zu machen und Truppen zu werben. Vor seinem geistigen Auge erschien jener Stich aus der Chronik seiner Familie, der sich auf dieses Geschehnis bezog. Als er den Kammerdiener ausfragte, merkte er, daß dieser über eine Einzelheit besonders aufgebracht war, die ihm schließlich trotz dem ausdrücklichen und mehrfach eingeschärften Verbote der Gräfinentschlüpfte, nämlich, daß es Ascanio, sein älterer Bruder, gewesen sei, der ihn bei der Mailänder Polizei verleumdet habe. Diese grausame Kunde verursachte bei unserem Helden eine Art Tobsuchtsanfall.
    Um von Genf nach Italien zu kommen, muß man über Lausanne. Fabrizzio wäre am liebsten auf der Stelle zu Fuß aufgebrochen und wäre zehn bis zwölf Meilen marschiert, obwohl die Post von Genf nach Lausanne schon in zwei Stunden abfahren mußte. Zu guter Letzt geriet er in einem der traurigen Genfer Kaffeehäuser noch mit einem jungen Menschen in Streit, der ihn, wie er sagte, sonderbar angesehen habe. Und das stimmte durchaus. Der phlegmatische und vernünftige Genfer, der an nichts dachte als an Geld, hielt ihn für verrückt. Beim Eintritt in das Kaffeehaus hatte Fabrizzio wilde Blicke nach allen Seiten geworfen und dann die Tasse Kaffee, die man ihm brachte, über seine Beinkleider verschüttet. Bei dem Wortwechsel entsprach Fabrizzios erste Bewegung ganz dem Cinquecento. Statt den jungen Genfer einfach zu fordern, zog er seinen Dolch und warf sich auf ihn, um ihn zu erstechen. In diesem Augenblick der Leidenschaft vergaß er alles, was er vom Ehrenkodex gelernt hatte, und folgte nur dem Instinkt oder, besser gesagt, den Erinnerungen seiner Kindertage.
    Der Vertrauensmann, den er in Lugano traf, schürte seine Wut durch neue Einzelheiten noch mehr. Beliebt, wie Fabrizzio in Grianta war, hätte ohne das liebenswürdige Vorgehen seines Bruders kein Mensch seinen Namen erwähnt. Jedermann hätte getan, als wisse er ihn in Mailand, und nie wäre die Mailänder Polizei auf seine Abwesenheit aufmerksam geworden.
    »Zweifellos haben die Zollbeamten Ihren Steckbrief,« sagte der Bote seiner Tante zu ihm, »und wenn Sie auf der Hauptstraße reisen, werden Sie an der Grenze des lombardo-venezianischen Königreichs festgenommen.«
    Fabrizzio und seine Leute kannten in den Bergen zwischen Lugano und dem Comer See jeden Weg und Steg.
    Sie verkleideten sich als Jäger, das heißt als Schmuggler, und da sie ihrer drei waren und recht energische Mienen zur Schau trugen, begnügten sich die Grenzwächter, die ihnen begegneten, mit einem Gruß. Fabrizzio richtete es so ein, daß er das Schloß erst gegen Mitternacht erreichte. Um diese Stunde waren sein Vater und die gepuderten Bedienten schon lange schlafen gegangen. Mühelos kletterte er in den tiefen Graben und stieg durch ein kleines Kellerfenster in das Schloß, wo er von seiner Mutter und seiner Tante erwartet wurde. Bald kamen seine Schwestern herbeigeeilt. Die Zärtlichkeitsergüsse und Tränen wollten nicht aufhören, und kaum begann man sich vernünftig zu unterhalten, als die ersten Strahlen der Morgensonne diese Menschen, die sich nun nicht mehr für unglücklich hielten, an die Flüchtigkeit der Zeit mahnten.
    »Vermutlich hat dein Bruder keine Ahnung von deiner Heimkehr«, sagte die Pietranera zu ihm. »Ich habe seit seiner schönen Tat kein Wort mehr mit ihm gesprochen, wofür mir seine Eigenliebe die Ehre erwiesen hat, beleidigt zu sein. Heute beim Abendessen habe ich geruht, das Wort an ihn zu richten. Ich mußte einen Vorwand finden, um meine tolle Freude zu bemänteln, die ihn hätte argwöhnisch machen können. Als ich dann bemerkte, daß er auf diese scheinbare Aussöhnung ganz stolz war, habe ich mir sein Behagen zunutze gemacht und ihn über die Maßen zum Trinken verleitet. Sicherlich hat er heute nicht daran gedacht, sich auf die Lauer zu legen, um sein

Weitere Kostenlose Bücher