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Die Katastrophe

Die Katastrophe

Titel: Die Katastrophe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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überhaupt das geilste Gefühl aller Zeit. Der Abgrund. Die Tiefe. Das Abschätzen der Gefahr. Und schließlich: der Fall.
    Die Theodor-Roosevelt-Brücke war tausendfach gesichert. Ein Gitternetz spannte sich fast zwei Meter weit, um die durchgeknallten Typen abzuhalten, die vornehmlich an Weihnachten oder Silvester, Thanksgiving oder einem anderen dieser trüben Feiertage auf die Idee kamen, ihrem Leben ein Ende zu bereiten.
    »Das wäre Selbstmord.«
    »Nur wenn man sich umbringen will«, hatte Sebastien geantwortet.
    »Willst du das?«
    »Heute nicht.« Er hatte gelacht.
    »Aber es ist verboten.« Verboten war, die Grenze, auf die Katie es geradezu anlegte, zu überschreiten. Gerade deshalb, weil ihr Superdaddy im Außenministerium seine Fäden zog.
    Ich scheiß auf Verbote, dachte sie, als sie in die Gegenwart zurückkehrte und in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie schon seit Stunden keinem dieser ständigen Schilder begegnet waren, die überall im Tal hingen und mit Lebensgefahr drohten.
    Katie zeigt eine deutliche und andauernde Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen.
    Der Psychologe – dieser im Verhältnis zu ihr kleinwüchsige Professor Lebkowski mit etwas im Gesicht, das einem Bart nicht einmal ähnlich sah, hatte das in seinem Gutachten über sie geschrieben. Natürlich hatte sie diesen Bericht nie vorgelegt bekommen. Mann, als ob die Krankheit erst richtig zuschlug, wenn man das Urteil schwarz auf weiß las. Nein, Katie hatte den Umschlag im Arbeitszimmer ihres Vaters entdeckt und, als sie Prof. Dr. Lebkowski als Absender las, beschlossen, dass dieser Bericht eigentlich ihr gehörte. Aber genauso gut hätte sie ihr Horoskop lesen können.
    Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen.
    Sie lief jetzt wie in Trance und das war nicht gut für Erinnerungen. Sebastien, der auf das Brückengeländer geklettert war und hoch über ihr stand. Dieser Wind! Katie war es vorgekommen, als ob das Brückengeländer geschwankt hatte und er mit ihm.
    »Komm wieder runter! Ich habe keine Lust darauf, dass gleich die Cops hier auftauchen, unsere Köpfe auf die Kühlerhaube ihres Polizeiwagens knallen und uns nach Waffen durchsuchen.«
    »Ach, ihr Amerikaner! Ihr steht ja auf die Todesstrafe. Balancieren auf der Theodor-Roosevelt-Brücke verboten. Rauchen verboten. Alkohol in der Öffentlichkeit verboten. Küssen auf öffentlichen Plätzen verboten.«
    Und im nächsten Moment war er heruntergesprungen, stand vor ihr, packte sie an den Schultern und dann lag sein Mund auf ihrem – ziemlich lange und Katie wurde bewusst, dass sie noch nie im Leben geküsst worden war. Von niemandem. Nicht einmal von ihren Eltern. Und je länger es dauerte, desto besser fand sie es. Und...
    »He Leute! Sieht so aus, als ob hier Endstation ist.«
    Sie wurde aus den Gedanken gerissen und verdammt – sie hatte für einen Moment den Boden aus den Augen gelassen, der noch dunkler und schlammiger war als vorher. Ihr rechtes Bein steckte fest.
    Benjamin musste sie und Ana überholt haben, ohne dass sie es bemerkt hatte, und stand nun vor ihnen, die Hände erhoben.
    »Sackgasse! Es geht nicht weiter.«
    Katie sah auf. Vor ihnen: Felsen. Nichts als Felsen. Er durchschnitt links von Katie den Sumpf und rechts das undurchdringliche Gebüsch.
    »Wir sind da«, sagte Ana, zog den Rucksack von den Schultern, stellte ihn ab und ließ sich daneben auf den Boden fallen.

13
    D ie Sonne brannte wirklich unerträglich. Nicht eine Wolke war an dem strahlend blauen Himmel zu sehen. Katie wischte sich den Schweiß von der Stirn, streifte den Rucksack ab und sah sich um. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und starrte in die Höhe.
    Die Felswand war gigantisch und schien sich wie aus dem Nichts aus der grünen Sumpflandschaft zu erheben. So etwas hatte Katie noch nie gesehen. Steil war gar kein Wort dafür und das Gestein war glatt geschliffen wie ein Spiegel, zumindest soweit Katie das erkennen konnte. Und dazu noch der Überhang in etwa fünfzig Metern – und was danach kam, wusste nur der liebe Gott.
    Das hier musste die Wand sein, die man vom Solomonfelsen aus sehen konnte und die über mehr als tausend Meter direkt auf den Gipfel des Ghost führte. Wochenlang hatte Katie sie aus der Ferne studiert und war immer zu dem gleichen Schluss gekommen: Ein Aufstieg hier war völlig undenkbar. Wahnsinn. Selbstmord.
    Doch nun, da sie so völlig unvermittelt davorstand, konnte sie kaum still stehen.

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