Die Katastrophe
und legte den Kopf in den Nacken. Ja, es war eine mörderische Wand. Und dennoch!
»Keine Wand ist zu schwer, wenn man sich richtig darauf vorbereitet«, erklärte sie.
Er deutete mit der Hand nach oben. »Aber darauf bist du nicht vorbereitet.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es.«
»Was genau weißt du?«
»Dass du das Unglück heraufbeschwörst.« Er machte eine kurze Pause. »Es wäre ja nicht das erste Mal.«
Katie erstarrte. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Ach nein?« Er zog eine Augenbraue hoch.
Katie würde nie weit genug fliehen können. Sebastiens Schatten würde ihr überall folgen. Und wie konnte es auch anders sein? Er war der einzige Mensch, der je ihre Seele berührt hatte, der sie gesehen hatte, wie sie war, der sie verstanden hatte. Der Einzige, der es je geschafft hatte, ihr Tränen in die Augen zu treiben – wie jetzt.
Sie wandte sich ab und war fast dankbar, als Ben neben ihr auftauchte und mit dieser albernen CNN-Reporterstimme sagte: »Katie West und Paul Forster – das neue Dreamteam am Grace?« Er hob seine Filmkamera, doch Paul war bereits wieder im Gebüsch verschwunden.
Wenigstens gab ihr das Zeit, ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie straffte die Schultern, ließ Ben stehen und kehrte zu den anderen zurück, die sich auf dem Boden niedergelassen hatten und gerade dabei waren, ihren Proviant auszupacken.
Katie verspürte keinen Hunger.
»Wo ist Ana hin?«, fragte sie und sah sich um.
»Keine Ahnung.« Julia zuckte mit den Schultern und streckte Katie einen Schokoriegel entgegen. »Möchtest du?«
»Nein! Und denkt nicht, dass ihr hier ewig Pause machen könnt, fügte sie ungeduldig hinzu. »Wenn wir noch hoch zur Hütte wollen, sollten wir bald wieder los.«
»Du bist der geborene Sklaventreiber«, knurrte Chris. »Wir sind seid fünf Uhr unterwegs. Wir haben diese Pause mehr als verdient.«
»Verdient?« Katie schüttelte den Kopf. »Wir haben noch keinen einzigen Höhenmeter hinter uns gebracht.«
»Das stimmt nicht«, erklärte David, der gegen den Felsen gelehnt saß, und zog seinen Höhenmesser hervor. »Wir haben bereits mehr als hundert geschafft.«
»Ja, und vor uns liegen noch über tausend bis zur Gletscherzunge. Und die haben es in sich.«
Lautes Rufen unterbrach sie mitten im Satz. Es war eindeutig Benjamins Stimme. Im nächsten Moment drängte er sich durchs Gebüsch und stand vor ihnen. »He, Leute, das glaubt ihr nicht!«
David, der sich mittlerweile auf den Boden gesetzt hatte, sah müde auf. »Was glauben wir denn jetzt schon wieder nicht?«
Doch statt einer Antwort warf sich Benjamin auf den Boden und brach in Lachen aus. »Mann, das Mädchen ist der helle Wahnsinn! Echt Leute, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ana kann einfach durch Wände gehen!«
Sie alle hatten sich während der letzten Monate an Benjamin gewöhnt. Sie akzeptierten achselzuckend seine schlechten Witze, seine Stimmungsschwankungen, seine Nervosität. Sie duldeten, dass er sie ständig mit seiner Kamera verfolgte und diese Big-Brother-Nummer durchzog. Irgendwann hatte er ihnen versprechen müssen, die Filme nicht auf YouTube oder sonst irgendwo im Internet zu veröffentlichen, auch wenn Katie bezweifelte, dass er sich wirklich daran hielt.
Aber trotzdem – Benjamin schien ihr bis heute ebenso unzuverlässig wie harmlos. Ganz im Gegensatz zu Chris, den sie nicht durchschauen konnte, war Benjamin kein wirkliches Rätsel. Vermutlich nahm er ab und zu Drogen, das würde seine Aufgekratztheit und seine Stimmungsschwankungen erklären. Damit hatte Katie kein Problem. Auf einem anderen Blatt stand aber, wenn er nun völlig durchdrehte. Allein die Tatsache, dass er behauptete, Ana könne durch Wände gehen, war schon absurd genug, doch sein Lachen klang so hysterisch und schrill, dass es ihr kalt den Rücken hinunterlief. Benjamin, das hätte sie wissen müssen, war ein Sicherheitsrisiko.
»Ach komm, Ben«, hörte sie Chris sagen, »lass uns in Ruhe mit deinen Storys.«
»Nein, echt, überzeugt euch selbst! Ich zeig euch die Stelle. Eben noch stand sie vor mir und dann war sie plötzlich verschwunden.«
Sie sahen sich irritiert an.
»Sie sucht vermutlich nur den Weg«, meinte David und schaute sich nervös um.
»Ana kennt den Weg«, erwiderte Paul und strich sich die rotblonden Haare aus der Stirn. »Sie ist nicht so wie ihr. Sie stürzt sich nicht in ein Abenteuer ohne einen blassen Schimmer davon, was sie erwartet.«
»Aber du weißt, was uns
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