Die Katastrophe
»Was erklären würde, warum er auf Pauls Karte nicht eingezeichnet ist.«
Ana schob ihren Hut zurück. »Mit dieser Karte«, erklärte sie, »könnt ihr euch den Hintern wischen. Mehr ist sie nämlich nicht wert. Das Tal ist unberechenbar. Hier kann man sich nur auf zwei Sachen verlassen.«
»Und die wären?«, fragte Chris spöttisch.
»Instinkt und auf sich selbst. Wir müssen weiter dem Sumpf folgen.«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging voraus. Paul schloss sich ihr mit düsterer Miene an. Und obwohl Katie wusste, wie abartig, wie unsinnig es auch sein musste, empfand sie eine heimliche Freude darüber, dass Paul mit seiner Karte gerade zum Teufel geschickt worden war. Andererseits, gerade jetzt hätten sie sie brauchen können. Denn auch wenn sie die runde Kuppe des Ghost vorhin so deutlich vor Augen gehabt hatte, so schien es ihr unmöglich, dass ausgerechnet ein Sumpf sie zu dem Berg führen sollte. Überhaupt war nichts so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber wie auch immer – egal was auf sie zukam, Katie würde allem die Stirn bieten.
»Fandest du nicht auch, dass er mit einem Mal reichlich aggressiv geworden ist?«, hörte Katie Julias Stimme hinter sich. Und obwohl Katie wusste, wen sie meinte, fragte sie: »Wer?«
»Paul.«
»Keine Ahnung.«
»Meinst du, es liegt daran, dass Ana Professor Forster erwähnt hat?«
»Frag ihn doch.« Verflucht, schon wieder stapfte sie durch ein Wasserloch. Ihre Hose war bereits bis zu den Knien nass und sie fragte sich, ob sie sie über Nacht in der Hütte wieder trocken bekommen würde.
»Lieber nicht.« Julia lachte. »Womöglich geht er mit dem Messer auf mich los!«
»Das wird Chris schon verhindern. Wie läuft es eigentlich mit ihm?«
»Keine Ahnung. Es läuft. Irgendwie.«
»Klingt nicht gerade nach einer brandheißen Lovestory.«
»Nein.«
»Kein vertrauliches Gespräch unter Freundinnen?«, spottete Katie. »Keine Beichte? Keine brisanten, intimen Details über euer Liebesleben?«
Doch statt einer Antwort hörte sie einen Aufschrei neben sich. Julia blieb stehen und starrte auf ihre Hand. »Oh verdammt. Diese Gräser sind schärfer als eine Klinge. Es blutet.«
Im nächsten Moment war David bereits an ihrer Seite. »Das muss desinfiziert werden.« Er zog einen roten Nylonbeutel hervor, den er um den Hals trug, riss den Reißverschluss auf und zog ein Fläschchen sowie ein Wattepad heraus, auf das er eine orangefarbige Flüssigkeit tropfte. Dann nahm er vorsichtig Julias Hand in seine und tupfte langsam und sorgfältig die Wunde ab. »Ich mache ein Pflaster darauf. Ich hoffe, du bist gegen Wundstarrkrampf und Blutvergiftung geimpft.«
Katie sah, dass Julia blass wurde. »Keine Ahnung.«
»Das musst du doch wissen.« David klang besorgt. »Du kannst nicht einfach hier durch die Gegend rennen und nicht geimpft sein. Was, wenn die Moskitos über dich herfallen...«
»Moskitos? Hast du auch nur einmal eine einzige Fliege hier im Tal gesehen?«, spottete Katie.
»Und wenn sie an eine Schlange gerät? Mein Gott, ich hätte dich vorher fragen sollen...«
»Hey«, erklang im nächsten Moment Chris’ Stimme hinter ihnen. »Hör auf damit. Du bist hier nicht der Truppenarzt.« Er schob David zur Seite. »Ich kümmere mich schon um Julia.«
»Wenn du dich wirklich kümmern würdest, hättest du erst gar nicht zugelassen, dass sie mitkommt.« Davids Stimme zitterte.
Wow, dachte Katie, hier bahnt sich etwas an. Etwas, das wir nicht gebrauchen können. Und dann sagte sie: »Spielt euch doch nicht so auf. Julia ist kein kleines Mädchen. Sie weiß, was sie tut. Und hier gibt es keine Schlangen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, erklang nun Anas Stimme. »Aber keine Sorge. Ich habe von meinem Großvater gelernt, wie man die Wunde aussaugt.« Sie lachte spöttisch. »Alter Medizinmann-Trick. Das wollte ich schon immer mal machen.«
»Ihr seid ja alle verrückt«, stieß David hervor, wandte sich ab und ging mit schnellen Schritten voraus.
Er hat recht, dachte Katie, das sind wir – und das ist auch gut so!
Je weiter sie kamen, desto höher wurde das Schilf. Katie konnte nur das sehen, was gerade vor ihr lag, und den Himmel direkt über ihr. Sie fühlte sich wie im Dschungel und hatte den Berg nun vollends aus den Augen verloren. Doch Ana ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Unbeirrt ging sie voraus, als hätte sie einen inneren Kompass, der sie in die richtige Richtung führte. Sie drehte sich nie um, sie sagte kein
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