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Die Katzen von Ulthar

Die Katzen von Ulthar

Titel: Die Katzen von Ulthar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.P. Lovecraft
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Ritual gewirkt hatte.

109
    Dann hatte er im wachsenden Zwielicht eine Stimme aus der Vergangenheit gehört: Old Benijah Corey, der Dienstbote seines Großonkels. War der alte Benijah nicht schon vor dreißig Jahren gestorben? Dreißig Jahre vor wann?
    Was war Zeit? Wo war er gewesen? Was war daran merkwürdig, daß Benijah an diesem siebten Oktober 1883 nach ihm rief? War er nicht länger draußen geblieben, als es ihm Tante Martha erlaubt hatte? Was machte der Schlüssel da in seiner Jackentasche, wo doch eigentlich das Teleskop sein sollte, das ihm sein Vater vor zwei Monaten zum neunten Geburtstag geschenkt hatte? Würde er den mystischen Pylon aufschließen, den seine scharfen Augen zwischen den zerrissenen Felsen an der Rückseite der inneren Höhle hinter der Schlangengrube im Hang entdeckt hatten? Das war doch der Ort, den sie immer mit dem alten Zauberer Edmund Carter in Verbindung brachten. Die Leute trauten sich dort nicht hin, und niemand außer ihm war der von Wurzeln zugewachsene Spalt aufgefallen, und nur er hatte sich hindurchgezwängt, in die große, schwarze innere Kammer mit dem Pylon. Wessen Hände hatten diese Andeutung eines Pylons aus dem baren Fels gemeißelt? Die des alten Zauberers Edmund − oder die von Anderen, die er heraufbeschworen und denen er geboten hatte?Am Ende dieses Tages aß der kleine Randolph mit Onkel Chris und Tante Martha in dem alten Farmhaus unter dem Walmdach zu Abend.
    Den nächsten Morgen stand er zeitig auf und machte sich unter den ineinanderverschränkten Apfelbaumzweigen des Obstgartens hindurch zu dem höher gelegenen Waldstück auf, wo der Eingang der Schlangengrube zwischen grotesken, aufgedunsenen Eichen schwarz und abstoßend lauerte. Eine namenlose Erwartung überkam ihn, und er merkte nicht einmal, wie er sein Taschentuch verlor, als er in seiner Jackentasche nach dem wunderlichen Silberschlüssel kramte. Mit fester und abenteuerlicher Zuversicht kroch er durch die dunkle Öffnung und erleuchtete sich den Weg mit Streichhölzern, die er aus dem Wohnzimmer mitgenommen hatte. Im nächsten Moment hatte er sich durch den mit Wurzeln verstopften Riß am jenseitigen Ende gezwängt und stand in der weiten, unbekannten inneren Grotte, deren hinterste Felswand fast einem monströsen, bewußt gestalteten Pylon glich. Vor dieser feuchten, tropfenden Wand blieb er stumm und ehrfürchtig stehen, während er ein Streichholz nach dem anderen abbrannte. War diese steinige Ausbuchtung über dem Schlußstein des imaginären Bogens wirklich die gigantische Skulptur einer Hand? Dann zog er den Silberschlüssel hervor und verrichtete Bewegungen und Intonationen, an deren Herkunft er sich nur schwach erinnern konnte. Hatte er etwas vergessen? Er wußte nur, er wollte die Barriere zu dem fessellosen Land seiner Träume und den Schlünden, worin sich alle Dimensionen im Absoluten aullösten, überqueren.
    III
    Was sich dann ereignete, ist kaum in Worte zu fassen. Es steckt voll jener Paradoxe, Widersprüche und Anomalien, die im wachen Leben keinen Platz haben, sondern unsere phantastischsten Träume bevölkern und so lange als Tatsachen akzeptiert werden, bis wir in unsere enge, starre, objektive Welt limitierter Ursächlichkeit und dreidimensionaler Logik zurückgleiten. Der weitere Verlauf seiner Erzählung machte es dem Hindu schwer, nicht noch mehr den Anschein einer trivialen, kindischen Übertreibung zu erwecken, als er es mit der Idee eines durch die Jahre in seine Kindheit zurückversetzten Mannes 110
    ohnehin schon getan hatte. Mr. Aspinwall gab denn auch angewidert ein apoplektisches Schnauben von sich und hörte grundsätzlich nicht mehr hin.
    Denn das Ritual des Silberschlüssels, so wie es Randolph Carter in jener schwarzen, unheimlichen Höhle in einer Höhle zelebrierte, blieb nicht ohne Folgen. Von der ersten Geste und Silbe an, war die Aura einer seltsamen, entsetzlichen Mutation spürbar − ein Gefühl von unwägbarem Tumult und Konfusion in Zeit und Raum, das dennoch keine Spur von dem enthielt, was wir als Bewegung und Dauer erkennen. Unmerklich verloren solche Kategorien wie Alter und Standort restlos an Bedeutung. Am Tag vorher hatte Randolph Carter auf wunderbare Weise einen Abgrund von Jahren übersprungen. Jetzt war die Unterscheidung zwischen Knabe und Mann aufgehoben. Es gab nur noch die Entität Randolph Carter, mit einem bestimmten Vorrat an Bildern, die alle Verbindung zu terrestrischen Szenerien und den Umständen ihrer Aneignung eingebüßt

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