Die Ketzerbibel
machen, schöner und mächtiger noch als Rom.»
Danielle war überrascht. «Aber leben nicht alle Päpste in Rom?»
Juliana sah durch das Fenster den Rauchschwalben zu, die ihre Nester unter die Ziegel gebaut hatten. Auf ihrer Stirn erschien eine tiefe Falte.
«Bislang war das so. Dieser scheint es nicht vorzuhaben. Clemens V. ist Franzose und macht alle Anstalten, hierzubleiben. Damit sind die Römer gar nicht zufrieden. Sie befürchten natürlich, dass ihre Stadt an Bedeutung undReichtum verlieren wird, wenn sie plötzlich nicht mehr der Mittelpunkt der christlichen Welt sind. Ach, ich sehe große Schwierigkeiten auf die Kirche zukommen! Jedenfalls wollen wir dem Abbé keine Gelegenheit geben, das Augenmerk des Papstes auf Pertuis und auf uns zu lenken, nicht wahr.»
Danielle fühlte sich unbehaglich, aber Juliana lächelte schon wieder.
«Nur Mut! Es wird schon nicht so schlimm werden. Wenn er dich erst einmal gesehen hat, wird er seine Bedenken ganz sicher aufgeben. Sei ganz ruhig. Du gehörst jetzt zu uns. Daran wird sich nichts ändern!»
Doch es schien mehr Grund zur Besorgnis zu geben, als Juliana hatte durchblicken lassen. Jeden Morgen und jeden Abend gingen die Beginen zum Gottesdienst in die Hauptkirche der Stadt, Saint Pierre, was zum Glück keinen langen Fußweg durch die Stadt erforderte. Es ging über die belebte Place de l’Ange, durch die Rue Saint Pierre und dann durch das Korbflechterviertel. Sie gingen in geschlossener Gruppe, schweigend und rasch, mit gefalteten Händen. Auf der Place de l’Ange traf sie manch unfreundlicher Blick. Doch im Korbflechterviertel wohnten hauptsächlich ärmere Leute. Viele von ihnen hatten schon Wohltaten von den
sorores
erfahren, und so wurden sie meist freundlich gegrüßt.
An diesem Abend kam eigens Bruder Calixtus, um die Beginen abzuholen. Er kam direkt von der Baustelle Saint Pierre, wusch sich Hände und Gesicht mit Wasser aus der Zisterne und konferierte eine ganze Weile mit der Meisterin in deren Scriptorium.
«Nun, wie macht sich mein Findling?», fragte er.
«Gut», antwortete Juliana. «Leider erinnert sie sich immer noch an nichts.»
«Hm, das könnte uns Schwierigkeiten machen. Du weißt ja, dass Geisteskrankheiten als eine Strafe für Sünde angesehenwerden. Zeigt sie irgendwelche Anzeichen von abartigem Verhalten? Redet sie in fremden Sprachen? Ist sie launisch oder angriffslustig?»
«Nein, sie verhält sich in keiner Weise sonderbar, allenfalls ist sie außergewöhnlich ruhig und freundlich. Sie arbeitet hart und beklagt sich nie. Die anderen Schwestern haben sie innerhalb einer Woche ins Herz geschlossen – bis auf eine, aber die ist ohnehin nie zufriedenzustellen.» Sie schaute aus dem Fenster in den Hof und sah, wie Danielle mit der kleinen Küchenfrau am Brunnen stand und ihr half, rasch noch einen Fleck aus ihrem Rock zu entfernen.
«Ja, manchmal ist es fast schmerzhaft zuzusehen, wie Danielle sich bemüht. Immer schaut sie dabei auf die anderen, wie ein Hund, der Schläge von seinem Herrn erwartet. Sie möchte so sehr gefallen, dass sie sich in den Wünschen ihres jeweiligen Gegenübers spiegelt.»
«Wie soll sie sich da selbst wiederfinden», sagte Calixtus, «bei so vielen verschiedenen Wünschen. Aber die wahre Natur wird sich auf Dauer schon Bahn brechen.»
«Das fürchte ich nicht. So sehr kann sich kein Mensch verstellen. Wäre da etwas Schlechtes, so bin ich sicher, dass ich es jetzt schon spüren oder in ihren Zügen sehen könnte. Sonst hätte ich sie nicht aufnehmen können. Ich habe ja immerhin eine Verantwortung gegenüber meinen Schwestern.»
«Gott gebe, dass du recht behältst», sagte Calixtus.
Juliana und Calixtus traten aus dem Haus und brachen zusammen mit den Frauen zum Kirchgang auf. Der Spott ließ nicht lange auf sich warten: «Héhé! Ein einziger Hahn und so viele Hühner!», rief ein Gevatter aus dem Fenster. Und sein Nachbar, am Fenster gegenüber, in der engen Gasse kaum zwei Armlängen entfernt: «Brauchst du Unterstützung, Mönch? Bist ja nicht mehr der Jüngste!» Doch wederCalixtus noch die Beginen schenkten den Spöttern Beachtung.
Magdalène, die neben Danielle ging, raunte ihr zu: «Nur Mut! Der Abbé ist auch ein Mensch! Ich könnte dir Dinge von ihm erzählen …» Juliana drehte sich um und warf Magdalène einen strengen Blick zu.
«Aber wenn es doch wahr ist!», verteidigte sich Magdalène.
Die Place Saint Pierre war ein enger, halbrunder Platz an der Innenseite der
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