Die Ketzerbibel
nordöstlichen Stadtmauer. Die Häuser hier waren nur einstöckig. Das Kirchlein selbst hatte schon mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel, und man sah sie ihm an. Die Mönche von Montmajour hatten es errichtet, nachdem Guillaume Le Libérateur, derselbe, der die Sarazenen aus der Provence vertrieben hatte, ihnen die Stadt Pertuis geschenkt hatte. Man fürchtete, dass mit der Ankunft des Jahres 1000 der Weltuntergang käme, und das Schenken war groß in Mode gekommen. Als nun aber das Jahr vorüberging, ohne dass jemandem der Himmel auf den Kopf gefallen war, da wurden viele Geschenke zurückgenommen. Und so hatten sich auch die drei Söhne des Befreiers ihres verlorenen Erbes wieder bemächtigt. Sie hatten es aber so eilig, zu Geld zu kommen, dass sie das Städtchen nur hastig plünderten und abbrannten. Danach schenkte es ihre reuige und entsetzte Mutter wieder an die Mönche zurück. Gleichzeitig verpflichtete sie sich, jährlich zwölf Dutzend Pfund Kerzen und sechs Pfund Räucherwerk zu spenden. Dieses Kirchlein hatte also schon allerlei Ungemach gesehen. Gedrungen und flach, aus gelblichem Sandstein erbaut, war es von schwarzen Zypressen eingerahmt, die es inzwischen überragten. Es war für vielleicht hundert Gläubige gebaut worden, und nun zählte die Stadt Pertuis bereits 322 Herdfeuer, also an die 3000 Bewohner.
Vor dem Eingang standen die Gemeindemitglieder bereits in kleinen Grüppchen, Frauen und Männer getrennt, und schauten der Schar Beginen neugierig entgegen. Laura winkte den Schwestern freundlich. Einige der anderen Damen blickten kühl, reckten aber dennoch die Hälse: «Wo ist sie denn?»
«Ist es die da?»
«Sie sieht ja ganz manierlich aus», hörte Danielle es wispern. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken, doch sie beherrschte sich und zeigte der Welt ein ruhiges Gesicht. Ein wohlgekleideter und würdevoller Herr löste sich aus einer Gruppe und kam auf sie zu. Er trug gelbe Strümpfe aus feinstem Leinen, darüber eine weizengelbe mit roten Stickereien abgesetzte Houppelande mit trichterförmigen Ärmeln, die sich um die Handgelenke herum weit öffneten und bis auf halbe Oberschenkelhöhe herabfielen, darunter ein gefüttertes Wams. Jung war er nicht mehr, doch sein braunes Haar war noch voll und fiel ihm bis auf die Schultern herab. Der gerundete Bauch, den er vor sich hertrug, verriet Wohlleben, die Falten um Mund und Augen Lachlust. Er verbeugte sich knapp vor den Frauen und wechselte ein paar leise Worte mit Juliana.
«Das ist Mestre Marius de Vidal», flüsterte Magdalène. «Lauras Ehemann.»
«Ach, wie elegant er wieder angezogen ist, ganz nach burgundischer Manier!», sagte Gebba bewundernd.
«Ja, elegant», sprach Annik es ihr nach.
«Ich finde ihn ja ein wenig eitel und gockelhaft», flüsterte Anne. «Aber solange man ihm nicht in die Quere kommt, ist er schon angenehm.»
Marius kehrte zu den Ratherren zurück. Im Vorübergehen nickte er Danielle lächelnd zu: «Kopf hoch, meine Liebe, der Pfaffe wird euch schon nicht fressen.»
Während des Gottesdienstes hatte Danielle Gelegenheit, diesen «Pfaffen» genau in Augenschein zu nehmen: Er war ein junger Mann, klein und schlank, wohl gestaltet. Man hätte ihn hübsch nennen können mit seinen rabenschwarzen Locken und den dunklen Augen, der geraden, feinen Nase, den geschwungenen Lippen und einem Kinn, das Willensstärke verriet. Doch waren die Mundwinkel abfällig nach unten gezogen und sein Blick kalt. Danielle war es, als hätte sie so einen Blick schon einmal gesehen.
«Weib, was maßest du dich an, der Natur ins Handwerk zu pfuschen? Wenn Gott gewollt hätte, dass diese Sache einfach wäre, dann hätte er sie einfach gemacht.»
Doch nein: Fiel dieser Blick auf die wohlhabenden, die reichgekleideten Bürger in den vordersten Reihen, dann wurde er freundlich, beinahe unterwürfig. Nur wenn er die hinteren Reihen streifte, von wo der Geruch nach ungewaschenen Kleidern, Kohlsuppe und Armut aufstieg, verfinsterte er sich.
Nach dem Segen blieben die Beginen im Mittelgang zurück. Einige Gemeindemitglieder, die bereits aus ihren Bänken getreten waren, verweilten in der Nähe des Ausganges und gafften neugierig. Sie spürten, dass sich etwas Interessantes ereignen würde.
Bruder Calixtus winkte der Neuen, ihm zu folgen, und Juliana nickte ihr aufmunternd zu. Beklommen erhob sich Danielle und trat aus der Bank. Die Röcke ihrer Mitschwestern raschelten, das Holz der Bank knarrte vernehmlich. Sie ging hinter
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