Die Ketzerbibel
Calixtus auf den Altar zu. Langsam und in einem gewissen Abstand folgten die Beginen. Ihre Schritte hallten auf dem Steinboden, schienen förmlich bis in die Kuppel aufzufliegen und dort herumzuschwirren wie ängstliche Vögel.
Der Priester stand am Altar, mit dem Rücken zu ihnen.Sein Messgewand war so steif von Goldbrokat und edlen Steinen, dass es vom Körper abstand und ihn voluminöser erscheinen ließ, als er wohl war. Es war ein prächtiges Gewand, viel zu prächtig für diese bescheidene Kapelle. Abbé Grégoire hatte eine Seite in der silbergefassten, illuminierten Bibel aufgeschlagen und fuhr mit dem Finger geradezu zärtlich über die purpurne Initiale.
Calixtus räusperte sich. Abbé Grégoire drehte sich um. «Was ist denn noch?», fuhr er ihn an. Von nahem wirkte sein Gesicht eher unzufrieden denn unfreundlich.
Calixtus faltete die Hände und deutete eine Verbeugung an. «Ehrwürdiger Abbé Grégoire, wenn Ihr gestattet, so möchte ich Euch einen Neuzugang in der Gemeinschaft der frommen Frauen von Sainte Douceline vorstellen. Ihr Name ist Danielle. Ihr habt sicher von ihr gehört.»
«Allerdings!», entgegnete der Abbé.
Danielle fühlte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Der Priester drehte ihnen den Rücken zu und beschäftigte sich noch etwas länger mit dem kostbaren Buch. Abbé Grégoire wusste, wie er mit kecken Lügnern und Sündern umzugehen hatte: Er ließ sie erst einmal warten, um ihnen keine falsche Vorstellung von ihrer Bedeutung zu vermitteln. Ganz still war es in der Kirche. Die harten Pergamentseiten der Bibel wisperten beim Umblättern und erzeugten ein Echo im Gewölbe. Endlich schlug der Priester das Buch zu und hüllte es in ein besticktes violettes Seidentuch ein. Er stieg zu den beiden herunter, blieb aber auf der untersten Stufe stehen, da Danielle ihn sonst überragt hätte. Kampflustig reckte er den Hals und betrachtete Danielle etwa so, wie man eine tote Viper betrachten würde.
«So, du bist also die, die ihre Erinnerung verloren hat? Oder behauptest du das nur, um dich vor Bestrafung zu schützen? Wo kommst du her, Weib? Was hast du getan,dass man dich teerte und federte?» Abbé Grégoire war kein Freund langer Umschweife.
Danielle schaute ihm ruhig ins Gesicht. «Ich weiß es nicht. Möge die Gottesmutter meine Zeugin sein: Mir ist nicht, als hätte ich großes Unrecht auf mich geladen», sagte sie leise.
Abrupt streifte sich der Abbé das juwelenbesetzte Kreuz über den Kopf, das er auf der Brust getragen hatte, und berührte drei Male ihre Lippen damit. Es fühlte sich an wie Schläge. Das Metall war kalt, doch sie zuckte nicht zurück.
«Lege deine Hand auf diese Bibel dort!»
Danielle verneigte sich ehrerbietig und bekreuzigte sich, bevor sie ihre Hand auf das heilige Buch legte. Kein Blitz fuhr aus der Kirchenkuppel, kein Dämon fuhr heulend aus ihrem Mund.
Grégoire blies sie heftig an, eine der leichteren Arten, Dämonen aufzuspüren. Sie schloss die Augen. Speicheltröpfchen landeten in ihrem Gesicht. Der Atem des Geistlichen roch nach Zwiebeln und Wein. Nichts geschah. Von der Kirchentür her, wo die Gaffer standen, war ein Seufzer der Erleichterung zu hören.
Das Volk, das an der Tür gestanden hatte, und etliche Schaulustige von draußen waren unterdessen näher herangekommen. Sie drängten sich um die kleine Gruppe der Beginen am Altar. Immer wieder knarrte die Kirchentür, noch mehr Leute kamen hinzu. Niemand wollte sich das Schauspiel entgehen lassen.
Abbé Grégoire war noch nicht zufrieden. Forschend sah er Danielle an. Seine stechenden Augen bohrten sich in die ihren, bis sie den Blick niederschlagen musste. Plötzlich machte er einen raschen Schritt auf sie zu, packte Danielle am Handgelenk, zerrte sie die Stufen des Altars hinunter und hinter sich her, zur
cuppa
, zum Taufbecken.
Überrascht wichen die Beginen zurück, die Menge teilte sich, um gleich darauf zurückzufließen und sich hinter den beiden zu schließen wie ein Brei. Die Leute raunten und tuschelten, reckten die Hälse, drängten sich aneinander und stießen einander fast um vor Eifer, sich auch ja nichts entgehen zu lassen.
«Omnes Sancti et Sanctae Dei, intercedete pro nobis!», intonierte Grégoire laut. «Propitius esto, parce nobis Domine!»
Das Taufbecken war eine Spende der Grafen von Forqualquier, aus einem Block roten Sandsteins in der Form eines gedrungenen Pokals gehauen, mit Ranken und Kreuzblüten reich verziert und von einem schweren vergoldeten Deckel in der Form
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