Die Ketzerbibel
keine Unmenschen! Aber es ist zu spät. Wir haben sie zur Deportation nach Neapel verurteilt. Sie hat gesagt, dass sie von dort gekommen ist.»
«Zur Deportation? Lässt sich das nicht rückgängig machen? Könnt Ihr sie uns nicht herausgeben?», bettelte Carolus.
«Das würde ich gern, mein Sohn. Wirklich von Herzen gern. Die Liebe ist eine große Wohltäterin und geeignet, jeden Menschen zu bessern. Aber die Begine ist nicht mehr in unseren Händen. Sie ist auf einem Schiff, das in diesem Moment abgelegt hat.»
«Nein!», schrie Carolus. Er drehte sich um, riss die Tür auf und stürzte hinaus.
«Verzeihung!», sagte Calixtus zum wohl hundertsten Mal an diesem Morgen und folgte seinem Freund.
«Ach, wärt Ihr doch nur ein wenig früher gekommen», seufzte der Inquisitor. «Wie würde ich mich freuen, wenn einmal eine Sache zu einem guten Ende käme.»
Calixtus bahnte sich seinen Weg zum Hafen. Die Häuser wurden ärmlicher und niedriger, je näher er an sein Ziel kam, aus Lehm gebaut und mit Schilf gedeckt. Der Fischgeruch wurde intensiver. Netze mit Korkstücken daran und geflochtene Reusen hingen zum Trocknen an den Fassaden. Hie und da sah man Innenhöfe, in denen Frauen und Kinder Fische einsalzten oder Purpurschnecken aufschlugen, um deren kostbare Farbdrüse zu gewinnen. Die Männer, soweit sie nicht mit ihren Nachen auf See waren, saßen vor ihren Hütten, flickten Netze und flochten Körbe und Reusen aus Rohr. Wenn er Zeit und einen Blick dafür gehabt hätte, dann hätte er staunen können über die vielartigen Formen der geflochtenen Reusen: Es waren bauchige Körbe darunter, flache Schüsseln mit eingewobenen Deckeln darauf, spitz zulaufende Schläuche, eckige Käfige und Hohlringe, je nach den Gewohnheiten und dem Lebensraum der Kreaturen, die darin gefangen werden sollten: Krebse, Muscheln, Tintenfische, kleine oder größere Fische, Aasfresser oder Jäger.
Endlich öffnete sich die Gasse und gab den Blick auf den Hafen frei. Er lag in einer Bucht, die nur von Osten befahrbar, im Südwesten aber von einer Insel begrenzt war. Das Hafenbecken war vertieft und ausgehoben worden, das Ufer mit einer doppelten Reihe mächtiger Holzplanken befestigt. Zu den Rändern der Bucht hin gingen die Planken in Sandstrand und groben Kies über. Mit leisem Rauschen und Klickern schoben die Wellen den Kies über den Sand, bewegten die Gehäuse toter Muscheln, warfen abgerissene Seegräser und sterbende Quallen ab, ein ermüdendes ewiges Spiel.Kleine bläuliche Strandkrabben ließen sich ans Ufer tragen und rasten seitwärts durch den Sand auf Beutesuche. Möwen taten sich an Fischeingeweiden gütlich und stritten sich, als sei nicht genug da.
Zwei große Schiffe lagen im Hafenbecken vor Anker, ein bauchiges Handelsschiff aus dem Norden und ein Kriegsschiff, eine Dromone. Ruderboote verkehrten zwischen ihnen und dem Ufer, um Waren und Passagiere zu transportieren.
Wild schaute Carolus zwischen den beiden Schiffen hin und her.
«Welches ist es? Welches fährt nach Neapel?!», schrie er einem der Ruderer zu.
Der deutete mit dem Kopf hinaus auf das Wasser. Dort, wo zwei Wehrtürme die engste Stelle der Bucht kontrollierten, bevor es durch die zweite, größere Bucht hinausging aufs offene Meer, da sah man eine zweimastige Nau entschwinden.
Carolus stand mit hängenden Armen und schaute dem Schiff hinterher.
Calixtus stellte sich neben ihn. Zusammen sahen sie zu, wie das Schiff die Durchfahrt passierte. Die Segel waren schlaff und flatterten im Wind, bis das Schiff an den Felsen vorübergeglitten war. Dann blähten sie sich auf, und die Nau nahm Fahrt auf.
Carolus fuhr sich mit der Faust über die Augen.
«Du kannst zurück nach Pertuis. Ich folge ihr nach Genua, nach Rom, bis nach Neapel. Ich folge ihr bis ans Ende der Welt», murmelte er.
«Ist das nicht ein wenig übertrieben? Du weißt doch nicht einmal, ob sie dich haben will. Hat sie dir denn überhaupt Hoffnungen gemacht?»
«Sie hat sich mit mir gezankt», sagte Carolus geistesabwesend.
«Aha. Ein Anzeichen größter Zuneigung!», spottete Calixtus.
«Wenn ich ihr egal wäre, dann hätte sie sich nicht so mit mir gestritten», beharrte Carolus. «Sie war so wütend, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Und wenn ich nicht so vernagelt gewesen wäre, dann hätte ich sie dort gleich gefragt, ob sie meine Frau werden will. Ja, das hätte ich tun sollen. Stattdessen war ich gekränkt und bin fortgegangen. Und das war das letzte Mal, dass ich sie
Weitere Kostenlose Bücher