Die Ketzerbibel
allem!
Calixtus sah zweifelnd zu Carolus hoch, der versuchte, auf dem breiten, struppigen Pferderücken irgendwie Halt zu finden. «Pass nur auf, dass du nicht herunterfällst», rief er. Carolus schnaubte nur. Immerhin ging es jetzt ein wenig schneller voran, denn Calixtus’ Maultier zuckelte gutmütig neben dem Riesenross her.
Carolus’ Laune besserte sich zusehends. Die Berge kamen in Sicht, die das Hafenbecken und die Bucht von Toulon gegen das Inland abschirmten. Ein gewundener Weg führte aufwärts.
«Wenn wir so weitermachen, dann müssen wir nicht einmal mehr übernachten, sondern erreichen diesen Abend schon Toulon», sagte Carolus hoffnungsvoll.
Aber als sie den Pass bei Solliès überquerten, war die Straße blockiert.
«Es hat einen Unfall gegeben!», rief Bruder Calixtus, der vorausgeritten war.
Etwas weiter unten, in einer Kehre, sahen sie umgestürzte Karren liegen. Sie kamen näher, stiegen von ihren Reittieren und eilten zu der Unfallstelle.
«Braucht ihr Hilfe?», fragten sie.
Ein Reisender wies auf das Durcheinander. Zwei, nein drei Karren waren umgestürzt. Ein Ochse lag mit gebrochenen Beinen auf der Seite. Einer der Karren musste auf ihn gefallen sein. Er brüllte kläglich. Weiß ragten sein Knochen aus dem blutigen Fleisch. Die restlichen Zugtiere hatten sich losgerissen, oder man hatte sie aus dem Joch herausgeschnitten. Sie liefen aufgescheucht am Berghang herum und blökten. Endlich schnitt jemand dem verletzten Ochsen die Kehle durch. Hölzerne Wagenräder und Waren lagen verstreut am Wegrand.
«Helft uns! So glotzt doch nicht, um Gottes willen, helft uns!», schrie eine Frau. «Mein Mann ist verletzt!»
«Ich bin Arzt! Führt mich zu ihm!», rief Carolus. Man zerrte ihn zu einem Mann, der auf der Wiese gebettet lag. Ein zusammengerollter Mantel diente ihm als Kopfstütze. Er stöhnte und hatte offenbar große Schmerzen. Vorsichtig befühlte Carolus seine Knochen.
«Ihr habt drei Rippen gebrochen», sagte er schließlich. «Das wird wieder. Ich mache euch einen festen Verband um den Brustkorb. Der muss einige Tage dort bleiben, und du solltest dich schonen.»
«Schonen? Und wer soll das da aufräumen?»
«Das kann deine Frau tun und wer sonst noch dabei war. Und jetzt halt still!»
Calixtus war unterdessen um die Wagentrümmer herumgewandert und fand einen jungen Mann, der auf der Erde saß und verzweifelt den Kopf in die Hände gestützt hielt. Ein anderer war gerade dabei, die verstreuten Waren einzusammeln.
«Wie ist denn das passiert?», fragte Calixtus.
«Bei seinem Wagen ist die Bremse abgebrochen. Und da ist er in die anderen vor ihm hineingeschossen!», sagte jemand. «Sie haben ihn zum ersten Mal selbst einen Wagen lenken lassen, und dann passiert gleich so was!»
Calixtus klopfte dem jungen Mann beruhigend auf den Rücken. «Na, na, es war nicht deine Schuld. Niemand kann dir einen Vorwurf machen. Jetzt komm und pack mit an!»
Bis zum Anbruch der Dunkelheit hatten die Frauen und die Fuhrleute alle Trümmer von der Straße geschafft und ihre Waren zusammengesucht. Zwei Wagen konnten notdürftig repariert und wiederaufgerichtet werden, aber der dritte war nicht mehr zu gebrauchen.
Es war zwecklos und gefährlich, die Abfahrt nach Toulon in der Dunkelheit zu unternehmen. Also machten die Fuhrleute ein großes Feuer aus den Bruchstücken. Die Reisenden, die es an diesem Tag nicht weiterschafften, setzten sich zu ihnen. Man teilte, was man zu essen hatte, Brot und geräucherte Würste. Sogar ein Weinschlauch machte die Runde.
Carolus hatte keinen Appetit. ‹Wieder einen Tag verloren!›, dachte er und blickte sehnsüchtig auf die Stadt hinunter. Man erkannte bereits Häuser im ungewissen Schein der Fackeln und Öllampen, die in den Fenstern brannten. Auf den Wachtürmen unterhielten Soldaten ihre Feuer. Der Rest der Welt rund umher war in tiefes Dunkel gehüllt.
24.
Toulon stank nach Fisch und verrottenden Algen, und die Gassen waren eng und gewunden. Es waren hauptsächlich Fischer und Soldaten, die den Reisenden begegneten. Fischer in blauen Kitteln, Soldaten in Wämsern aus gehärtetem Leder, mit Gold und Prunk aus aller Herren Länder behangen. Darunter schauten bunte Strümpfe und mächtig ausgestopfte Schambeutel hervor, geschlitzte Ärmel und seidene Hemden, weiß oder in grellen Farben. Träger ächzten unter den Waren, die sie zum Hafen oder aus dem Hafen zu den Speichern der Handelshäuser schleppten: Korn und getrocknetes Gemüse, Käselaibe,
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