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Die Kinder der Nibelungen (German Edition)

Die Kinder der Nibelungen (German Edition)

Titel: Die Kinder der Nibelungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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sprechen konnte er nicht. Er wusste, er würde nur stammeln, und dann würde der Graue merken, dass er log.
    Hagen würdigte den Alten keiner Antwort und schwieg, die Hand fest in der Hosentasche vergraben.
    »Und wie kommen wir wieder hier raus?«, fragte Gunhild und sah den Fremden etwas zweifelnd an. Das Schwarze Auge, dachte sie, und musste an sich halten, nicht zu kichern, doch es war eine hysterisches Lachen, keine echte Fröhlichkeit. Wir sind in ein Fantasy-Rollenspiel hineingeraten, und jetzt müssen wieder raus aus dem Verlies. Es war schön und gut, sich vorzustellen, durch eine Fantasiewelt zu streifen; aber daran zu glauben, dass man in einer Welt jenseits der eigenen steckte, das war eine völlig andere Geschichte.
    »Diese eine Nacht werdet ihr hier verbringen müssen. Mit dem Licht des neuen Tages ist der Bann gebrochen, der euch hierher gebracht hat, und das Tor zu eurer Welt öffnet sich wieder«, erklärte der Graue. »Nur eine Nacht …«, fügte er, mehr zu sich selbst, hinzu.
    »Dann brauchen wir nichts weiter zu tun, als hier in der Höhle zu warten, bis die Sonne aufgeht?«, fragte Hagen spöttisch.
    Der Alte fuhr sich mit der Linken übers Kinn. Sein eisgraues Auge war fest auf die Kinder gerichtet.
    »Nein«, sagte er, »nein, das wäre nicht gut. Die Swart-alfar, die Schwarzalben, könnten euch hier finden; das wäre zu gefährlich. Sie sind mächtig, und wenn sie kommen, bin nur ich zu eurem Schutz da. Ich habe etwas anderes mit euch vor.«
    »Und was?«, fragte Hagen.
    »Das werde ich dir gerne sagen«, nahm der Graue den Faden wieder auf, »wenn du mich lässt, mein skeptischer junger Krieger.« Der Alte sah Hagen an.
    »Sprich dich aus …«, sagte Hagen nur.
    »Ich werde euch zu den Lichtalben, den Lios-alfar, bringen. Die werden euch diese eine Nacht vor den Swart-alfar schützen. Am Morgen werden sie euch wieder in eure Welt geleiten?«
    »Lichtalben? Schwarzalben? Was geht hier eigentlich vor?«, wollte Gunhild wissen.
    »Die Lichtalben und Schwarzalben bekriegen sich hier in der Anderswelt seit einer Ewigkeit. Hier in diesen Höhlen tobt der Kampf schon seit vielen hundert Jahren. Keine Seite konnte bisher die Oberhand gewinnen.«
    »Die Guten und die Bösen, was?«, meinte Gunhild.
    »Was ist Gut, was ist Böse? Das sind zwei Seiten einer Münze. Wer kann schon sagen, welche Seite davon die richtige ist. Der Unterschied liegt im Geist des Betrachters. Die Schwarzalben sind Ymirs Brut, mit denen sollte man so wenig wie möglich zu schaffen haben«, schloss der Graue.
    »Wer ist Ymir?«, fragte Gunhild.
    Der Alte lehnte sich auf seinen Stab. Dann begann er mit seltsam rhythmischer Stimme zu sprechen:
    »Urzeit war’s, / da Ymir herrschte;
Nicht war Sand noch See, / noch Salzwogen,
Nicht Erde unten / noch oben Himmel,
Gähnender Abgrund / und Gras nirgends …«
    Er verstummte, sah die Kinder an, bannte sie mit seinem funkelnden Auge.
    »Ich will euch erzählen, wie die Zwerge erschaffen wurden. Hört gut zu, denn so hat sich zugetragen:
    Am Anfang war Ginnungagap, der klaffende Abgrund. Dies war eine gewaltige, unbegrenzt große Schlucht, die sich unendlich in jede Richtung hin erstreckte und Platz hatte für eine Milliarde von Universen oder noch mehr. Darüber nachzudenken würde einen schwindlig machen, ja, den Verstand rauben; denn sie hatte keine Länge, keine Breite, kein Oben und kein Unten. Am Anfang gab es nichts in Ginnungagap, das ein menschliches Wesen hätte fassen können. Weder Licht noch Dunkelheit, keine Stille, aber auch keinen Ton – nur ein gähnendes Nichts. Obwohl dieses Nichts so ungeheuer und so gestaltlos war, war es doch nicht leer. Denn in ihm lag das Geheimnis der Schöpfung.
    Nach dem Urbeginn wurde aus diesem Nichts ein Etwas, und es bildeten sich zwei gegensätzliche Regionen heraus. Auf der einen Seite war das Reich des Feuers, Muspelheim genannt. Kein gewöhnliches Wesen konnte dort leben, denn das Land stand in Flammen und die Luft ebenfalls. Die Hitze war so groß, dass sie noch in Entfernung von Millionen Meilen alles versengte und verdorrte. An den flammenden Grenzen stand ein Riese Wache; sein Name war Surt, und er hielt in seiner Flammenhand ein loderndes Schwert. Sein Haupt und sein Gesicht bestanden aus geschmolzenem Feuer, sein Haar verschoss in alle Richtungen Lichtstreifen wie Kometen, und beständig flossen Lavaströme seinen ungestalten Körper hinunter. Und es heißt, dass er am Ende der Zeit Flammen und Rauch über die Welt

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