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Die Kinder der Nibelungen (German Edition)

Die Kinder der Nibelungen (German Edition)

Titel: Die Kinder der Nibelungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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erkennen, dass Hagen mit erhobenen Speer hinter ihnen stand. Die Spitze des Speeres war auf Siggis Rücken gerichtet.
    Alles in dem Mädchen schrie danach, sich vorwärts zu werfen, ihren Bruder zu schützen, aber sie würde das Unheil nicht mehr verhindern können. Auch Siggi konnte sich nicht mehr in Deckung werfen. Er war verloren, wenn Hagen mit dem Speer zustieß …
    Gunhild sah in Hagens Augen, und sie glaubte Zweifel zu erkennen, Abscheu vor sich selbst. Oder spiegelte sich in darin nur der Ausdruck ihrer eigenen wilden Hoffnung, dass Hagen nicht zustoßen, die Tat nicht vollbringen würde. Die Augenblicke dehnten sich zu Ewig-keiten. Jede Bewegung schien sie wie in Zeitlupe wahrzunehmen, als liefe alles in Einzelbildern vor ihr ab.
    »Nein!«, schrie Hagen und warf den Speer neben sich zu Boden. »Nein. Ich kann das nicht. Ich will nicht!«
    Siggi fuhr herum, die Hand schon am Hammer, der in seinem Gürtel steckte. Aber dann erkannte er Hagen, dessen Gesicht tiefe Verwirrung spiegelte. Zu seinen Füßen lag Odins Runenspeer. Siggi ließ den Arm sinken und sah Hagen fest in die Augen. Die Feindseligkeit, die bei ihrer Begegnung an dem unterirdischen Feuersee darin zu lesen gewesen war, war verschwunden. Hass und Zorn hatten Unsicherheit, Verzweiflung und Trauer Platz gemacht.
    Es war Siggi klar, dass er den ersten Schritt würde tun müssen, um die Missverständnisse auszuräumen, die es gegeben hatte. Also erhob er sich und bot Hagen seine Hand da, und er musste sich dabei nicht einmal zu einem Lächeln zwingen.
    »Freunde«, sagte Siggi.
    »Freunde«, antwortete Hagen, und er ergriff die dargebotene Hand.
    Noch vor einem Augenblick war er voller Mordgier gewesen, hatte Siggi töten wollen. Aber dann, als er hätte zustoßen können, war ihm alles plötzlich so unsinnig erschienen. Er lauschte in sich hinein, aber die Stimme, die ihn geleitet hatte, war weg. Und jetzt, da diese Präsenz ihn verlassen hatte, sah er vieles mit anderen Augen.
    Er fragte sich, wer es gewesen war, der ihn zu einem Mord hatte verleiten wollen. Wer war diese Stimme gewesen, die ihn immer wieder mit Einflüsterungen angetrieben hatte? War er am Ende vielleicht verrückt? Nein, damit würde er sich die Sache zu einfach machen; denn wie dem auch sei, ihm war bewusst, dass er selbst nicht völlig schuldlos war. Verletzter Stolz hatte ihn angetrieben und es Alberich und der Stimme leicht gemacht, ihn so weit zu bringen, einen Mord begehen zu wollen.
    Gunhild standen die Tränen in den Augen. Sie zog die beiden Jungen zu sich heran, und für einen Moment bildeten die drei eine Einheit.
    In Siggis Augen erneuerten sie den Pakt, den sie auf dem Felsen geschlossen hatten, als sie auf den Rhein heruntersahen und eigentlich zum ersten Mal gemerkt hatten, dass sie Freunde waren. Siggi war Alberich sogar fast dankbar; denn er hatte dieser Freundschaft einer Probe unterzogen, an der sie sich bewähren konnte.
    Hagen, Gunhild und er hatten diese Probe bestanden. Kein Traum von Macht und Einfluss hatte über das triumphiert, was sie zu Menschen machte. Im Grunde war das, was ihn mit Hagen verband, von viel größerem Wert als der Ring im Beutel an seinem Gürtel.
    »Und nun?«, fragte Gunhild erleichtert. Sie fragte nicht, was mit Hagen geschehen war. Der Bann, unter dem sie selbst gestanden hatte, war nun endgültig verflogen. Und ähnlich, sagte sich Gunhild, musste es auch Hagen und Siggi ergangen sein. Es war einfach gut, dass sie wieder frei waren und zusammen, zu dritt, hier im Herzen der Welt.
    Unter ihren Füßen erzitterte der Boden.
    Es war, als ob in den Tiefen der Erde, weit, weit unter ihnen, wo die Feuer von Muspelheim am heißesten waren, ein mächtiges Wesen sich regte. Es war wie ein gewaltiges Tier, das gefangen war und sich nun, nach endlosen Jahren der Qual, gegen seine Fesseln aufbäumte. Unzerstörbare Bande schnitten in unirdisches Fleisch; Blut, das wie Feuer lohte, strömte aus unsäglichen Wunden. Und dann war es frei.
    »Endlich frei!«
    Der Schrei der Freiheit wurde zum Schrei des Todes, als ein aufloderndes Flammenmeer ihn erstickte, und verebbte in einem Ächzen. Mit einem Aufbrausen wie ein Orkan fegte der Feuersturm alles hinweg, was sich ihm in den Weg stellte, raste empor durch Schächte und Kamine, mit einem dröhnenden Ton, der wie eine Fanfare des Untergangs durch die Anderswelt hallte.
    Das Horn von Ragnarök.
    In den Gängen flackerte es von einem rötlichen Feuerschein.
    »Machen wir, dass wir wegkommen«,

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