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Die Kinder von Erin (German Edition)

Die Kinder von Erin (German Edition)

Titel: Die Kinder von Erin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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er klar erkennen, dass dieser ihm zu essen anbot.
    Und Siggi hatte Hunger. Natürlich kann man im Traum Hunger haben, sagte er sich. Aber kann man auch essen?
    Er ging ein paar Schritte um das Feuer herum, sodass er den Mann fast berühren konnte. Er nahm das Messer und schenkte dem Mann ein Lächeln, das dieser erwiderte. Das Messer hatte einen Griff, der aus Horn gemacht zu sein schien, und eine seltsame Klinge, stumpf und wie mit vielen kleinen Schuppen besetzt; beim zweiten Hinsehen erkannte er, dass es Vertiefungen waren, wo jemand mit einem harten Gegenstand Stücke absplittert hatte. Die Klinge war aus Stein, aber messerscharf.
    Siggi wandte sich dem Feuer zu, und jetzt spürte er deutlich die Hitze, die von der Glut ausstrahlte. Einen Augenblick lang zögerte er, doch der Hunger war stärker. Er setzte das Messer an, und als der Spieß sich unter der Klinge wegdrehte, griff er instinktiv mit der anderen Hand hin. Das Fleisch war heiß. Er riss den verbrannten Finger zurück und steckte ihn in den Mund, und plötzlich war ihm, als habe der Nebel sich schlagartig ein Stück gelichtet, und er hörte andere Laute über dem Rauschen der Wellen: das Knacken der Scheite in der Glut, das Knirschen des Sandes unter seinen Füßen, die Schreie der Vögel hoch oben im Wind. Und dennoch wusste er immer noch, dass dies alles nicht wirklich war, nicht real.
    Es ist nur ein Traum.
    »Iss!«, sagte eine Stimme, und gehorsam, ohne nachzudenken, säbelte Siggi sich einen Streifen Fleisch ab, spießte ihn auf die Klinge und biss hinein.
    Es war gutes Fleisch, fest und von Adern und Sehnen durchzogen; Fleisch, wie ein Jäger es braucht. Er spürte deutlich die Hitze des Fleisches und wie fettig es war. Und doch war es voller Saft und hatte einen Geschmack wie von abgehangenem Wild, dessen Strenge durch die Zeit gemildert war, die es braucht, um das Blut zum Stocken zu bringen. Er schluckte den Bissen hinunter, spürte, wie dieser durch seine Kehle glitt und wie sich im Magen ein warmes, wohliges Gefühl ausbreitete. Erneut biss er in das saftige, fettige, heiße Fleisch – und hörte plötzlich auf zu kauen. Das Messer rutschte aus seiner Hand und fiel mit dem Rest des Bratenstücks in den Sand.
    Der Nebel, diese diffuse, graue, wabernde Masse, verschwand, als würde ihn die Sonne dahinschmelzen, und die Umgebung klärte sich. Einzelne Bäume und Büsche schälten sich heraus. Ein Sonnenstrahl brach hervor. Einen Augenblick stand Siggi geblendet da, doch dann sah er klar.
    Er stand auf den Höhen der Dünen. Über ihm strahlte die Sonne an einem tiefblauen Himmel. Zu seiner Linken erstreckte sich der gewaltige Ozean und zu seiner Rechten eine mit Gras bewachsene Ebene, von der sich Büsche, Bäume und kleine Gehölze abhoben.
    »Au!«, entfuhr es Siggi, und er bemerkte, dass er mit seinen Füßen dem Feuer zu nahe gekommen war.
    Schmerz in einem Traum? Vater hat doch gesagt, wenn man Schmerz empfindet, ist man wach. Das war sein Rezept gegen Albträume.
    Siggis Gedanken überschlugen sich.
    Wenn er Schmerz empfand, war er wach; aber wenn er wach war, wo war er dann? Wieder in der Anderswelt, jener Welt neben dem, was er Realität nannte?
    Siggi blickte an sich herab und sah sich selbst in Tierfelle gehüllt, statt des Trikots vom FC Liverpool, den ›Reds‹, das sein Freund Hagen ihm geschenkt und das er getragen hatte, als er zu Bett gegangen war. Erst jetzt bemerkte er, dass an einem Strick, den er statt eines Gürtels um die Hüften trug, ein schwerer Hammer hing. Aber es war nicht der Hammer des Donnergottes, dessen Abbild er an einer Kette um den Hals getragen hatte. Es war eine primitive Waffe, nicht mehr als ein fester Knüppel, an dem mit Lederriemen ein durchbohrter, zurechtgehauener Stein befestigt war.
    Und jetzt spürte er auch den Wind, der über seine nackte Haut strich.
    Siggi sah auf den hockenden Mann, der immer noch lächelte. Der Junge löste die Steinaxt von seinem Gürtel. Schon einmal hatte er einen zwielichtigen Führer durch die Anderswelt gehabt, der sich als Gott entpuppt und ihnen nicht nur Gutes gebracht und letztlich eine Welt in den Abgrund gestürzt hatte.
    Siggi packte den Hammer und hielt ihn drohend vor sich. Jetzt fühlte er sich ein bisschen wohler. Er versuchte sich zurechtzufinden, und mit der Waffe in der Hand ging das besser. Außerdem machte der Streitkolben dem Mann klar, dass dieser nicht mit ihm machen konnte, was er wollte. Und schließlich war Siggi größer als sein Gegenüber,

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