Die Kinder von Erin (German Edition)
geweckt hatte. Also tappte sie auf nackten Füßen zur Tür.
Vielleicht war ja Siggi auch wach. Von seinem Zimmer hatte man einen anderen Ausblick auf den Park; vielleicht war der Harfenspieler von dort aus zu sehen. Gunhild summte leise die Melodie mit, als wäre sie ihr bereits das ganze Leben vertraut.
Die Tür öffnete sich mit einem Knarzen, das unnatürlich laut in der Stille klang. Der Gang draußen, erhellt von einem matten Lichtschein, der aus der Diele heraufdrang, war breit, die kalten Steinfliesen mit alten Teppichen bedeckt, die ein wenig muffig rochen, aber angenehm an den bloßen Füßen kitzelten. Irland, dachte Gunhild. Hier war alles ein bisschen schäbiger als zu Hause, aber dafür mit Geschichte und Tradition durchtränkt.
Während das Mädchen den Gang hinunterschlich, schienen ihr die strengen Blicke der Herren von Dunvegan Castle zu folgen, deren Porträts in den Blendnischen des Ganges aufgereiht waren. Fast dreihundert Jahre waren hier versammelt, von Dandys mit Stutzerbärtchen über ernste Herren in steifen Biedermeierkragen und Jagdröcken bis hin zu schelmisch blickenden Männern in absurden Perücken aus jener Zeit, als die Familie noch gar nicht auf der Insel gelebt hatte.
Die Fitzroys, so hatte ihnen Hagen erklärt, waren ein altes Normannengeschlecht, welches im Jahre 1066 als Ritter an der Seite von Herzog Wilhelm nach England gekommen war und deren Urahn Seite an Seite mit dem Eroberer gegen König Harolds Truppen gekämpft hatte. Dann hatten sich seine Nachkommen über Jahrhunderte hinweg in Cornwall angesiedelt, dem äußersten Südostzipfel Britanniens, und schließlich hatte es irgendeinen Sir Soundso Fitzroy - wie er genau geheißen hatte, hatte Gunhild vergessen – in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Irland verschlagen, auf Befehl des Königs, um die aufsässigen Iren zu befrieden. Dort hatte er auf den Grundmauern einer alten im Zuge vieler Kämpfe und Kriege geschleiften Burg das heutige Dunvegan Castle errichtet. Und seitdem durften die männlichen Nachfahren, wenn sie erst in Amt und Würden waren, sich Baron Dunvegan nennen.
»Dunvegan«, hatte Hagen ihnen erklärt, »das kommt vom gälischen dun beag, was nichts anderes heißt als ›kleiner Hügel‹. Aber der andere Hügel, der hinter dem Park liegt, heißt Dunmor Hill, was im Grunde doppelt gemoppelt ist.« Als Siggi und Gunhild darauf nicht gleich reagierten, hatte er, etwas selbstzufrieden grinsend, hinzugefügt: »Naja, dun mor heißt für sich schon ›großer Hügel‹.«
»Nicht besonders originell, die alten Iren, was?«, hatte Siggi geknurrt, und für einen Augenblick glaubte Gunhild, etwas wie Feindschaft in der Luft zu spüren, doch dann hatten beide gelacht und sich in die Hände geschlagen.
Aber die Lady, eine kleine alte Dame mit schlohweißem Haar – »Sagt einfach Tante Meg zu mir!« –, hatte eine andere Erklärung parat: »Dunvegan, das ist der Hügel der Megan, der alten Göttin von Erin, wie Irland früher einmal hieß«, und mit einem Lächeln hatte sie hinzugefügt: »Merkt euch das gut, Kinder!«
Gunhild hatte inzwischen Siggis Zimmer erreicht. Vorsichtig öffnete sie die Tür, denn sie wollte keinen unnötigen Lärm machen. Das Licht des Mondes fiel durch die Fensterscheiben und schien auf ihren kleinen Bruder, wie sie ihn immer noch nannte. Doch seit dem letzten Jahr war Siggi in die Höhe geschossen; er war jetzt vierzehn und keinesfalls mehr der kleine Junge von früher, eher schon mal ein bisschen großkotzig. Doch irgendwie hatte Gunhild immer noch manchmal das Bedürfnis, ihn beschützen zu wollen.
Siggi schlief auf dem Rücken, und sein lockiges blondes Haar lag wie der goldene Schopf eines Engels auf den mit weißer Spitze umhäkelten Kissen. Ein Lächeln schien seine Lippen zu umspielen, und für einen Moment glaubte Gunhild, ihr Bruder tue nur so, als ob er schliefe, und würde im nächsten Moment aus dem Bett hüpfen; aber das Zwielicht dieser seltsamen Nacht hatte ihr einen Streich gespielt. Siggis Schlaf war tief und friedlich. Sein Atem ging absolut gleichmäßig. Seine rechte Hand schloss sich fest um etwas, und das Mädchen wusste, was es war, das Siggi da hielt. Ein bronzenes Amulett, sein Andenken an das, was vor einem Jahr mit ihnen geschehen war, damals, als sich das Tor der Anderswelt für sie aufgetan hatte.
Es gab Tage, an denen Gunhild überhaupt nicht mehr daran dachte, und andere Tage, an denen es ihr wie ein ferner Traum erschien. Sie waren in
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