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Die Kinder von Erin (German Edition)

Die Kinder von Erin (German Edition)

Titel: Die Kinder von Erin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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über den ganzen Körper zu kriechen, als Hagens Hand sie wie zufällig an der Seite berührte, und ein seltsames Verlangen überkam sie. Und zugleich stieg in ihr die Frage auf, ob sie bereit für das war, was sie in sich fühlte. Immer noch klang die Melodie der Harfe in ihren Ohren, aber die gab ihr keine Antwort.
    Hagen hatte sich Gunhilds Geschichte in aller Ruhe angehört. Das Mädchen hob fast schon verstohlen den Blick und sah Hagen in die Augen.
    »Seltsam«, begann er vorsichtig. »Keiner vom Personal oder aus dem Dorf spielt Harfe. Aber die alten Sagen …«
    Er stockte, als Gunhild ihn fragend ansah. Beide hatten bei der Sommersonnenwende vor einem Jahr zu viel erlebt, um nicht in alten Sagen einen wahren Kern zu vermuten.
    »Was ist damit?«, fragte Gunhild atemlos, und dabei sehnte sie sich ein bisschen danach, dass Hagens Hand sie noch mal berührte.
    »Es gehen Geschichten um hier in der Gegend, weißt du. Die alten Leute erzählen sie. Dass man in Nächten wie dieser – Sonnenwende, Tagundnachtgleiche, Winter- oder Frühlingsanfang – schon mal seltsame Dinge sieht oder hört. Nur ein paar Meilen von hier entfernt liegt Tara, die Königsburg des alten Erin, und über den Dunmor Hill heißt es, dass er einer der ›Hohlen Hügel‹ sei, wo die shee leben.«
    »Die ›Schi‹?«
    »S-i-d-h-e. Aber das ›dh‹ ist stumm. Sidhe, gälisch. Das Feenvolk.«
    »Meinst du, das Ganze beginnt von vorn – Abenteuer in der Anderswelt?«, fragte Gunhild, und nun fröstelte sie wirklich, aber nicht vor Kälte, sondern weil sie neben der Schönheit auch an den Schrecken dachte, den die alte Magie mit sich brachte, an das Blut und die Tränen.
    »Ich glaube, wir sollten im Haus bleiben«, riet Hagen, und Gunhild gab den Plan auf, zu dem Hügel zu gehen, um nachzusehen, woher die Musik kam.
    Sie nickte nur und merkte erst jetzt, dass sie Hagen immer noch in die Augen sah und den Blick nicht von ihm lösen konnte.
    »Bleib doch«, schlug Hagen vor. »Dann sind wir beide nicht allein, diese Nacht.«
    »Ich hab keine Angst vor der Musik«, antwortete Gunhild, »wenn du das meinst. Nein, so etwas Schönes kann keine Bedrohung sein.«
    Sie lächelte, aber es war mehr ein Versuch, ihre Verlegenheit zu verbergen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Etwas in ihr flehte sie an, zu bleiben, um mit Hagen neue Seiten ihres Lebens zu entdecken. Ein anderer Teil in ihr sagte ihr, dass sie noch zu sehr Kind und zu wenig Frau war, um das zu tun, was in der Luft lag.
    »Ich glaub, ich gehe besser wieder in mein Zimmer«, und Gunhild schien es, als klänge die Harfenmusik, die sie immer noch hörte, ein wenig enttäuscht, sofern Musik überhaupt enttäuscht klingen konnte.
    »Bekomme ich denn wenigstens einen Gutenachtkuss?«, bat Hagen, und in seinem Blick lag etwas, von dem Gunhild glaubte – oder bildete sie es sich nur ein –, dass es Verlangen war.
    Sie nickte stumm, und mit einem Mal meinte sie einen Kloß im Hals zu spüren, und sie schluckte schwer.
    Ihre Gesichter näherten sich, und Gunhild schloss die Augen. An den Schultern spürte sie die vorsichtig tastenden Hände Hagens, der sie an sich zog. Der Morgenmantel glitt von ihren Schultern. Gunhild schloss die Augen. Immer näher kamen sich ihre Lippen.
    Etwas polterte auf dem Gang.
    Die beiden fuhren auseinander.
    »Was war das?«, fragte Gunhild.
    »Lass uns nachsehen«, meinte Hagen. Er stand auf und nahm das Tuch von der Nachttischlampe, um mehr Licht zu haben. Auch Gunhild erhob sich vom Bett, verharrte dann aber in der Bewegung.
    Die Musik klang nun völlig anders. Die beschwingten, freudigen Untertöne waren verschwunden; es war, als würde der Harfner auf dem gleichen Rhythmus eine völlig andere Melodie spielen.
    Hagen winkte mit dem Kopf: »Komm!«, und das löste ihre Starre. Schritt für Schritt näherten sich die beiden der Tür. Hagen streckte seine Hand aus, drehte vorsichtig am Knauf und zog dann die Tür einen Spalt weit auf. Draußen war nichts zu erkennen. Er öffnete die Tür noch ein Stück, um ganz auf den Gang sehen zu können.
    Wie aus dem Nichts kam im toten Winkel der Tür etwas hervorgeschossen. Und obwohl der Eindruck nur den Bruchteil einer Sekunde währte, war der Anblick, der sich Hagen und Gunhild bot, dazu angetan, einem das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.
    Es war ein Monster!
    Riesengroß wuchs es vor ihnen auf. Es war grün – nicht grasgrün wie ein Frosch, sondern bräunlich grün wie Moos oder die schuppige Haut einer

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