Die Kinder von Erin (German Edition)
Echse. Sein Gesicht war mit blauer Farbe bemalt, sodass es fast aussah wie ein Indianer in voller Bemalung oder ein tätowierter Maori-Krieger aus Neuseeland. Die Muster waren in Spiralen angeordnet und schienen seltsamen, wirren Gesetzmäßigkeiten zu gehorchen.
Das Ungeheuer hielt in der Linken einen Rundschild aus Holz, an dem es wie Bronze blinkte, und in der Rechten eine schwere, mit Dornen bewehrte Keule, die einen Schädel zu zertrümmern vermochte.
Aber das Schlimmste war das Gesicht. Das Monster hatte nur ein Auge!
Gunhild entfuhr ein gedämpfter Schrei. Hagen zog geistesgegenwärtig die Tür zu, dass sie ins Schloss krachte, und drehte den Schlüssel um.
»Was ist das?«, entfuhr es Gunhild.
» No idea … keine Ahnung. Aber ich bin sicher, es ist nicht von hier«, antwortete Hagen. Er schnaufte, als wäre er zu lange oder zu schnell gelaufen.
»Wir verbarrikadieren die Tür«, schlug Gunhild vor. Und in dem Moment, als sie den Vorschlag machte, zog sie auch schon an einer schweren Kommode, die neben der Tür stand. Hagen packte ohne zu zögern mit an.
Draußen auf dem Gang hörte man undefinierbare Geräusche, aber es schien, als wäre das Ungeheuer nicht allein im Haus, sondern als würde ein ganzer Trupp dieser Kreaturen dort sein Unwesen treiben.
Hagen und Gunhild stemmten mit vereinten Kräften den schweren Nachttisch auf die Kommode.
»Das Bett!«, kommandierte das Mädchen.
»Das ist zu schwer«, entgegnete Hagen. »Das schaffen wir nicht.«
Auch der Kleiderschrank, ein wuchtiges Möbel, das sicher noch aus dem 18. Jahrhundert stammte und aus massiven Holz gearbeitet war, widersetzte sich ihren Anstrengungen.
Auf dem Gang war es still geworden. Zu still für den Geschmack der beiden. Sie hatten die gleiche Frage, und keiner von ihnen wusste eine Antwort darauf: Was ging da draußen vor?
Und was war mit Siggi, Hagens Tante und den Bediensteten? Keine Antwort.
Atemlos standen Gunhild und Hagen da und starrten beide auf die verschlossene und verbarrikadierte Tür.
Dann, ohne jede Vorwarnung, begann es. Ein dumpfer Schlag traf die Tür, die sichtlich erbebte.
»Schnell«, sagte Hagen. »Zieh dir das über.« Hagen hatte seine Trainingsjacke gegriffen und gab sie Gunhild. In diesem Moment traf der zweite Schlag die Tür, und das Holz knirschte.
»Warum hört das denn keiner?«, fragte Gunhild. Und in dem Moment, als sie die Frage stellte, fürchtete sie sich schon vor der Antwort. Womöglich hatten die Monster alle anderen bereits umgebracht. Ihr Bruder und Hagens Tante und die Bediensteten, von denen sie bis jetzt nur die Köchin und den Gärtner kennen gelernt hatten, waren vielleicht schon nicht mehr am Leben.
Hagen war unterdessen in Jeans und Turnschuhe geschlüpft. Ein weiteres Paar hielt er dem Mädchen hin.
»Nike. Benannt nach der griechischen Siegesgöttin«, murmelte er. »Hoffentlich helfen sie uns gegen das Vieh da draußen.«
Auch Hagen hatte sich die Frage gestellt, warum niemand den Krach hörte. Und er wollte Gunhild seine eigene Angst nicht zeigen. Wenn es einen Vorteil hatte, Engländer zu sein, dann der, dass man seine Gefühle zu verbergen lernte. Hagen dachte schmerzvoll an so manche Erfahrung in dieser Hinsicht; aber er schüttelte die Gedanken ab, denn inzwischen fielen die Schläge gegen die Tür immer schneller, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie nachgab.
Hagen hatte einen Entschluss gefasst. Der Ausweg führte durch das Fenster, hinaus auf die Auffahrt. Dann wollte er versuchen, mit Gunhild ins Dorf zu kommen.
»Die passen nicht«, meinte Gunhild, die versuchte, ihre Füße in die Schuhe zu zwängen.
» Shit! «, entfuhr es Hagen.
Erste Splitter begannen sich aus dem Holz der Tür zu lösen, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis das Monster ein Loch hineingeschlagen hatte. Vielleicht waren es ja auch mehrere, die auf die Tür eindroschen – zwei, drei, ganz viele …
In fliegender Eile begann Hagen den Bezug von der Bettdecke zu zerren. Als er es geschafft hatte, riss er das Laken von der Matratze und knotete beides zusammen. Das würde reichen, weit genug herunter zu kommen, um einen Sprung in die Blumenbeete an der Hausmauer zu wagen, ohne dass man dabei riskierte, sich die Knöchel zu brechen oder sich einen Bänderriss zuzuziehen.
Hagen lief zum Fenster. Gunhild dachte an ihre eigenen erfolglosen Versuche, das Fenster in ihrem Zimmer zu öffnen, aber es gab einen Trick dabei: Statt den Flügel aufzuklappen, zog Hagen ihn einfach
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