Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
zurück. Roberto runzelte die Stirn. Er musste zweimal hinsehen, aber es gab zweifellos einen Unterschied.
»Dort habt ihr den Auslöser weiter nach hinten gesetzt als beim anderen Geschütz. Warum?«
Neristus’ Augen funkelten. »Die sirranische Buche ist wundervoll.« Er tätschelte die betreffende Balliste. »Sieh nur, wie viel stärker sie gespannt werden kann. Das sind mehr als fünfzehn Prozent.«
Roberto lächelte. »Und wie viel weiter wird sie schießen?«
»Das dürften leicht sechzig Schritt sein. Die neuen Arme sind schon vorbereitet. Mit deiner Erlaubnis kann ich sie bis morgen zum Abmarsch einpassen.«
»Sind sie zielgenau?«
»Wenn du willst, können wir ja mit den Tsardoniern üben«, erwiderte Neristus.
Gerade in dieser Lage wäre die höhere Reichweite ein entscheidender Vorteil. Roberto nickte erfreut.
»Rovan, du bist ein Genie, und deine Ingenieure sind eine Zierde der Konkordanz. Erledige das«, sagte er. »Morgen wird ein großer Tag.«
Die taktischen Veränderungen waren noch vor der Morgendämmerung des trockenen, düsteren Tages durch die Befehlskette weitergegeben worden. Wie an den vergangenen vier Tagen marschierte die Armee los, aber an diesem Tag gab es echte Hoffnung, dass sie das Blut der Feinde vergießen würden. Neristus war am Morgen neben seinen Wagen gelaufen, und der Anblick hatte Roberto mit großer Zuversicht erfüllt. Die Bailisten waren abgedeckt, und auf den neuen Armen aus Buchenholz schimmerte frisches Öl.
Die Aufstellung glich jener der vergangenen Tage, doch dieses Mal gab es kein Zögern. Kaum waren sie in der richtigen Position, schon begann der Vorstoß. Gleichmäßig und langsam rückten sie vor. Roberto hielt sich das Spähglas vor das Auge, um zu erkunden, ob die Tsardonier auf diese Veränderung irgendwie reagierten, doch es gab keine größeren Bewegungen. Die Infanterie stand wie zuvor in einer einzigen Reihe mit der Phalanx in der Mitte. Dahinter hielten sich Bogenschützen bereit, die Flanken waren durch Kavallerie gedeckt.
Robertos eigene Kavallerie wartete nicht weit entfernt im Hintergrund. Eine sechzig Schritt größere Reichweite bedeutete, dass seine Ballisten über die Köpfe seiner Infanterie hinweg feuern und die tsardonischen Krieger treffen konnten, ehe seine Hastati in Reichweite der feindlichen Pfeile gerieten. So nutzten sie den Fehler in der gegnerischen Aufstellung aus. Zwar hatten die Feinde den taktischen Vorteil, von einer erhöhten Position aus zu kämpfen, doch ihnen blieb nicht viel Spielraum, um sich zurückzuziehen, bevor sie mit dem Rücken zu ihrem eigenen Lager standen. Sobald die Geschütze das Feuer eröffnet hatten, gab es nur einen Weg, der Bombardierung zu entgehen.
Neristus konnte Entfernungen ausgezeichnet schätzen, und auf sein Signal hin ließ Roberto die Truppe anhalten. Sie waren den Feinden jetzt näher als je zuvor. Die Hastati waren bis auf zweihundertfünfzig Schritte an die Feinde herangekommen und starrten stolz und groß über ihre Schilde hinweg. Die tsardonischen Reihen rührten sich nicht, abgesehen von unsicherem Füßescharren angesichts dieses neuen Manövers. Allerdings wussten sie, dass sie immer noch außer Reichweite waren.
»Halt!«, rief Roberto. Die Melder gaben seine Befehle mit Flaggen durch die Reihen an die Meister und Zenturionen weiter. »Bereit zur Verteidigung. Schildwall gegen feindliche Angriffe, Piken nach vorne richten.« Er selbst stand an der rechten Flanke in der Nähe der estoreanischen Kavallerie. »Ingenieure, spannen und laden. Die ersten Schüsse auf mein Signal, danach auf Befehl der Meister.«
Vierzig Kurbeln wurden knirschend und quietschend auf ebenso vielen Ballisten von jeweils zwei Leuten gedreht. Dann legten sie die Bolzen in die Führungsschienen. Es waren pyramidenförmige Pfeilköpfe aus Stahl auf Schäften aus Eschenholz, schwer und tödlich. Als die Mannschaften bereit waren, hob Roberto den Arm, die Flaggen nahmen seinen Befehl auf. Schweigen breitete sich auf der Ebene aus. Auf den Hängen warteten die Tsardonier weiter ab. Unten hielt sich die Konkordanz bereit.
»Mach mich stolz, Neristus«, flüsterte er.
Er ließ den Arm sinken, und die Flaggen folgten seiner Bewegung. Nahezu im gleichen Augenblick schnellten die Sehnen der Bailisten nach vorn. Dumpfes Knallen durchbrach die Stille. Die Geschosse pfiffen über die Köpfe der Infanteristen hinweg. Roberto konnte die meisten mit dem Blick verfolgen, dann verloren sie sich vor dem Hintergrund
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