Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
zusammen.
»Ich habe dich vermisst«, sagte sie. »Wir sollten uns nicht streiten.«
»Besonders verzweifelt warst du anscheinend nicht«, gab Jhered zurück. »Wie ich hörte, waren die Spiele ein Erfolg.«
»Ja, das waren sie. Und wie ich bemerke, hast du deine Rückkehr perfekt abgestimmt«, erwiderte Herine scharf. »Nicht einmal dir dürfte die Stimmung in der Stadt entgangen sein.«
»Ich bin sicher, dass die Bürger in der Stadt sehr glücklich sind«, erwiderte Jhered. »Aber das gilt vielleicht nicht für unsere Freunde in Atreska und Gosland.«
»Den letzten Berichten konnte ich entnehmen, dass unsere Heere im Norden und Süden bedeutende Siege errungen haben, und dass der Osten dem Ansturm der Feinde standhält. Der Sieg ist nahe.«
»Ich bete, dass du recht hast. Wann kommen die nächsten Berichte?«
Herine zuckte mit den Achseln, weil die Diskussion sie langweilte. »In den nächsten sieben bis zehn Tagen.« Sie bedeutete Jhered, ihr etwas Wein einzuschenken. »Also, gibt es nun Hexerei und Ketzerei, oder hat sich Vasselis nur irgendwelchen Täuschungen hingegeben?«
Jhered öffnete die Ledertasche, die er mitgebracht hatte, und zog ein gebundenes Dokument heraus, das er ihr über den Tisch hinweg reichte. Herine nahm es und schlug die erste Seite auf.
»Es sind zwei Dokumente. Dieses ist das kürzere. Es enthält eine Zusammenfassung, Empfehlungen und detaillierte Berichte über alles, was wir gesehen und erfahren haben. Die längere Version enthält außerdem die Genealogie sowie Spekulationen über die Fähigkeiten und die Entwicklung, außerdem die beschworenen Erklärungen aller Männer und Frauen in Westfallen und aller Angehöriger des Hauses Vasselis. Ich lasse sie hier in der Mappe.«
»Ich verstehe.«
Herine begann zu lesen. Sie überflog die Zusammenfassung und sah in einige Berichte. Was sie entdeckte, las sich wie eine reine Erfindung und schlug sie immer stärker in den Bann. Eine unerhörte, gefährliche Erfindung eines perversen Geistes. Am Rande hörte sie, wie Jhered mit ihr sprach. Worte wie »Schutzhaft«, »Waffe«, »Beobachtung« und »Kontrolle« drangen zu ihr durch, aber sie hörte kaum zu, denn sie mochte nicht glauben, dass der Mann, der vor ihr saß, den Bericht als wahr beglaubigt hatte. Beinahe wurde ihr schwindlig, und sie bekam eine Gänsehaut. Heiß strömte das Blut durch ihre Adern, und ihre Handflächen wurden feucht.
Sie konnte nicht anders, sie las den ganzen Bericht gleich an Ort und Stelle und suchte nach einem Ausweg oder nach Hinweisen auf Tricks und Verdrehungen, die den Text als komplizierte List entlarven würden. Jhereds Empfehlungen sprachen von vorsichtiger Aufklärung und späterer Einweihung des Ordens und der Veröffentlichung. Sie behandelten Ängste, mit denen man rechnen musste, wogen dagegen aber die Möglichkeiten für Fortschritt und Entwicklung der Menschheit auf. All das unter dem wachsamen Auge der Advokatur. Die wichtigste Tatsache hatte er allerdings ausgelassen.
»Das ist widerwärtig«, sagte sie, als sie endlich wieder etwas sagen konnte. »Ich habe dich gebeten, unvoreingenommen zu berichten, aber nicht ohne die Führung Gottes. Dies ist eine Beleidigung für den Allwissenden. Was hast du dir dabei nur gedacht?«
»Was du sagst, entspricht genau dem, was ich empfunden habe, als ich die Aufgestiegenen zum ersten Mal sah und mit der Leserin in Westfallen gesprochen habe. Du musst dich allerdings von den Schriften lösen und dies als das sehen, was es ist. Es ist ein Experiment am Rande des Zulässigen, aber eines, das die Natur und somit Gott selbst im Laufe der Zeit ohnehin durchgeführt hätte. Ist das Ketzerei? Das ist die Frage, die mich seitdem beschäftigt.«
»Wie kannst du das auch nur fragen, Paul?« Herine schüttelte voller Enttäuschung den Kopf. »Vielleicht hätte ich dich nicht schicken sollen. Vasselis hat dich offensichtlich beeinflusst.«
»Sage das nicht, solange du nicht jedes Wort in beiden Berichten gelesen hat. Ja, es beunruhigt mich. Aber das sind die Tatsachen … für die Menschen in Westfallen ist dies buchstäblich das Alltagsleben. Die Aufgestiegenen sind für sie nichts weiter als der nächste Schritt. Das Feuer brennt bereits.«
»Dann muss es gelöscht werden«, sagte Herine. »Paul, ich bin die Erste Sprecherin des Ordens der Allwissenheit. Ich bin seine Vertreterin auf der Erde. Ich habe aus Respekt für dich und Vasselis und im Wissen, dass von Felice Koroyan kein ausgewogenes Urteil zu
Weitere Kostenlose Bücher