Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Süden der Stadt flimmerte die Luft, und von dort kamen weitere Reiter schnell herüber. Dunkel zeichneten sich die Gestalten vor den lodernden Feldern ab.
Mitten auf der Hauptstraße versuchte der Garnisonskommandant, die verängstigten Freiwilligen zu organisieren. Sie waren hoffnungslos in der Unterzahl, schlecht ausgerüstet und unzulänglich ausgebildet. Dennoch stellten sie sich, vier Reihen tief, mit nach vorn gerichteten Piken zur Verteidigung auf. Hinter ihnen wartete eine Handvoll Bogenschützen mit gespannten Jagdbogen.
Han Jesson schüttelte den Kopf. Es war wirklich traurig und so sinnlos. Beinahe wollte er sie schon drängen, wegzulaufen und sich zu verstecken, um sich wenigstens selbst zu retten. Doch sie konnten den anderen etwas Zeit verschaffen, sich in Sicherheit zu bringen, und sein Selbsterhaltungstrieb war stärker als sein Mitgefühl.
Die Nordseite der Stadt war verloren. Auf der ganzen Strecke bis zum Fluss brannten Häuser. Immer noch hörte er Kampfgeräusche, aber die Reiter räumten dort gerade auf und trieben die Tiere der Bauernhöfe nach Nordosten. Jetzt galt ihre Aufmerksamkeit dem Zentrum des Ortes. Er hatte zwei Möglichkeiten. Er konnte bleiben, sich im Haus verstecken und Gefahr laufen, bei lebendigem Leibe zu verbrennen, oder er konnte zusammen mit seiner Familie nach Süden fliehen und hoffen, niemand werde auf ihn achten, bis sie die Ställe erreichten, wo der Wagen und die Pferde standen.
Er trat vom Fenster zurück und ließ seinen Blick über das Geschäft schweifen. Die Angst machte es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wusste nicht, was er tun sollte.
In einer Ecke tröstete seine Frau ihren kleinen Jungen. Der Angriff war ohne Vorwarnung gekommen, die Reiter waren, als die Sonne im Zenit stand, aus dem eine halbe Meile entfernten Wald gebrochen. Der Lärm, die Schreie und die Panik der Leute hatten ihn zu Tode erschreckt, und sein kleiner Junge zitterte am ganzen Körper. Der arme Hanson war erst fünf Jahre alt. So etwas sollte er nicht ansehen müssen.
Er starrte seine Frau an, die ihn stumm anflehte, irgendetwas zu tun. Überall standen Amphoren, Töpfe, Teller, Vasen, Pokale und Kunsthandwerk. Alles im eigenen Laden entworfen, gebrannt und mit Hand bemalt. Das alles aufzugeben, war gleichbedeutend mit der Vernichtung seiner Existenz. Zu bleiben bedeutete, lebendig verbrannt zu werden.
Draußen schwoll der Lärm an, er hörte die Hufschläge der sich nähernden Pferde. Die Leute rannten Hals über Kopf nach Süden. Wie konnte so etwas überhaupt geschehen? Sie waren mehr als drei Tages reisen von der tsardonischen Grenze entfernt. Jedenfalls nahm er an, dass die Angreifer von dort gekommen waren. Er rieb sich die Augen trocken und presste sie wieder an den Spalt im Fensterladen, um das Ende der Straße zu betrachten. Er hatte zu lange gezögert, jetzt war es zu spät, um noch wegzulaufen.
»Uns wird hier nichts passieren«, sagte er. »Wir sind hier in Sicherheit. Bleibt einfach dort hinten und verhaltet euch ruhig.«
»Han, was ist denn los?«, fragte Kari ängstlich.
»Die Miliz kann sie nicht aufhalten, die Leute rennen fort. Ich verspreche dir, hier drinnen sind wir sicher.«
Er glaubte seinen eigenen Worten nicht und hatte einen kalten, harten Klumpen in der Magengrube, während ihm die Tränen immer wieder den Blick trübten.
Die Reiter griffen die unsichere Verteidigungslinie der Pikeniere an. Sie kamen direkt von vorn, es mussten mehr als fünfzig sein. Pfeile trafen die ersten Verteidiger, einige Männer stürzten lautlos, andere wanden sich kreischend. Ein paar Pfeile flogen den Angreifern entgegen, nicht mehr als zwei Reiter wurden getroffen. Darauf zogen die feindlichen Bogenschützen ihre Pferde herum und schossen eine weitere Salve ab. Dieses Mal löste sich die Reihe der Piken auf der linken Seite auf. Einige Reiter stießen in die Lücke vor und ließen die Schwerter herabsausen, Blut spritzte hoch. Die Bogenschützen der Verteidiger machten kehrt und rannten fort.
Laut hallten die Hufschläge zwischen den Gebäuden auf dem Pflaster. Jesson duckte sich, als die ersten Reiter vorbeidonnerten. Direkt vor seinem Haus machten sie einen Mann nieder, den er kannte. Der Tote prallte schwer gegen die Mauer, sein Blut spritzte aufs Pflaster, die blicklosen Augen richteten sich auf ihn.
Eine Hand vor den Mund gepresst, wich er taumelnd zurück. Übelkeit übermannte ihn, er würgte und atmete keuchend.
»Oh guter Allwissender Gott,
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