Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
was wir fühlen, lasst Euren Mund aufrichtig antworten, nicht mit den abgedroschenen Phrasen, die aus den Federkielen der Advokatur fließen und von Schreibern und Politikern verbreitet werden. Diese Leute haben das Zerstörungswerk nie mit eigenen Augen gesehen, sie wissen nicht, was Krieg ist. Sie können unsere Not nicht verstehen. Ihr aber habt die Macht, uns zu helfen. Es schmerzt mich, dass Ihr sie in all den Jahren, die wir uns kennen, nicht ausgeübt habt.«
»Ich spreche nur Worte aus, von denen ich überzeugt bin«, erwiderte Jhered. »Und ich arbeite für das, woran ich glaube. Ich bin ein Bevollmächtigter der Estoreanischen Konkordanz und ihrer Advokatin. Meine Arbeit ist bei allen unbeliebt, aber damit muss ich leben.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich bin ein Steuereinnehmer, und deshalb mag mich niemand. Dennoch diene ich allen, wenn ich meine Arbeit tue. Sogar den Einwohnern von Gullford. Sogar in einer Zeit wie dieser.«
»Ihr fragt Euch, warum ich heute noch nicht mit Euch geredet habe? Vielleicht kennt Ihr die Antwort bereits.«
»In diesem Fall, Marschall, werde ich Euren Wusch zu schweigen respektieren.«
Gullford lag zwischen den sanften Hügeln eines Tals, durch das der Fluss Gull von Norden nach Süden strömte. Der Fluss entsprang im Seengebiet südlich von Gosland und mündete ins Tirronische Meer. Die Furt, um die sich der Ort entwickelt hatte, befand sich am Südrand der Siedlung. Dort querte die wichtige Handelsroute den Gull von Osten nach Westen. Seit der Ankunft der Estoreanischen Konkordanz und nach Beginn der Feldzüge gegen Tsard war weiter stromabwärts eine Steinbrücke gebaut worden, die einen besseren und direkteren Zugang zu den Unternehmungen im Feindesland ermöglichte.
Gullford war in den letzten Jahren dennoch aufgeblüht, da die Heere der Konkordanz häufig in großem Maße Vorräte einkauften und Beutegut aus Tsard eintauschten. Die Händler aus Gullford belieferten auch den Markt in Haroq und konnten Waren, die in der Hauptstadt sehr begehrt waren, zu günstigen Preisen anbieten. Die Bedeutung des Ortes hatte letzten Endes sicherlich auch dazu geführt, dass die Tsardonier hier eingefallen waren.
Zwei Tage nach dem Überfall und gerufen von einem Boten, der auf seinem erschöpften Pferd in Yurans Burghof geritten war, sahen die Atreskaner und Jhereds Leute einen zerstörten Ort vor sich. Ein großer Teil von Gullford lag in Trümmern. Die Felder an den Hügelflanken und darüber hinaus waren schwarz und zerstört, viele Villen nur noch schwelende Ruinen; der Rauch stieg in den klaren blauen Himmel auf. Im Ort selbst markierten verbrannte Gebäude, dunkle Flecken auf dem Pflaster und verstreute, zerbrochene Habseligkeiten den Weg der Angreifer: Kleidung, Töpferwaren, Möbel. Einige Häuser und Wege hatten sie ganz ausgelassen und sich lieber auf die Hauptstraßen und das Ackerland konzentriert.
Kaum ein Tier stand noch auf der Weide. Die Luft stank nach Asche und Fäulnis.
Der Ort war still. Einige Leute bewegten sich in der Siedlung und räumten auf, so gut sie konnten. Die Leichen waren bereits entfernt und vermutlich begraben worden. Vor dem Haus der Masken wehten viele neue Flaggen und zeugten von den gewaltsamen Todesfällen, die sich vor Kurzem ereignet hatten. Jhered nahm sich vor, im Haus zu beten und eine Handvoll Erde zu wenden, bevor er zurückkehrte.
Er war sich seiner Erscheinung durchaus bewusst, als er in die Stadt einritt. Im Gegensatz zu den schimmernden Rüstungen der atreskanischen Kavallerie bevorzugten er und seine Leute eine Kleidung, die für lange Reisen geeignet war. Sein leichtes Kettenhemd trug er über einem ledernen Unterhemd, die Hosen waren mit eingenähtem Leder verstärkt, sein Mantel nur dazu gedacht, in kalten Nächten die Kälte abzuhalten. In den Satteltaschen trug er sein Siegel und seine amtlichen Dokumente bei sich, an der Hüfte steckte sein estoreanischer Gladius in der Scheide.
All dies war nicht besonders auffällig, doch auf dem Rücken seines Mantels, auf der Schärpe, die er angelegt hatte, und auf dem Rundschild seiner Leute prangte das Abzeichen der Einnehmer – zwei Arme, die das Wappen der Estoreanischen Konkordanz und der Familie Del Aglios umschlossen. Schon für sich genommen war das Wappen geeignet, in Atreska Misstrauen zu wecken. Wenn es aber auf diese Weise eingerahmt war, schlug das Misstrauen an Orten wie diesem leicht in offene Feindschaft um.
Die Aufräumarbeiten gerieten ins Stocken, als die
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