Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
haben geholfen, wo wir konnten, mussten aber auch an unsere eigene Sicherheit und unsere eigenen Truppen denken. Gosland ist uns inzwischen fremd geworden. Die Herrscher dort führen sich auf, als wären sie schon mit einer Toga auf einer Säule sitzend geboren worden, so sehr sind sie der Konkordanz inzwischen hörig. Wir dachten, in Atreska sei dies anders. Inzwischen sind wir nicht mehr ganz so sicher.«
»Uns droht ein Bürgerkrieg«, erklärte Gorsal. »Wir wollen keinen Krieg mit Tsard, nachdem wir so lange im Frieden gelebt haben.«
Rensaark nickte. »Aber endgültig fortschicken wollt ihr die Konkordanz auch nicht.«
»Der Handel läuft gut«, räumte Gorsal ein.
»Die Zeit ist gekommen, eine Entscheidung zu treffen.« Rensaarks Stimme war so kalt wie seine Augen. »Estorea zieht in Gosland und Atreska hinter der Grenze in einem nie gesehenen Ausmaß Truppen zusammen. Die besten Generäle führen das Kommando, die besten Legionen stehen vorn. Keine dreißig Meilen von hier entfernt haben die Bärenkrallen treue Atreskaner abgeschlachtet, die sich ihnen in den Weg gestellt haben. Ihr müsst den Rauch am Horizont bemerkt haben. Ihrem eigenen Glauben zum Trotz verbrennen sie die Leichen derer, die sich ihnen widersetzen. Sie steuern auf einen Krieg mit Tsard zu, und Atreska muss sich entscheiden, wem es treu ist und auf wessen Seite es steht. Eine Spaltung darf es nicht geben. Jetzt nicht mehr.«
Gorsal schluckte und bekam eine Gänsehaut. »Was meinst du damit? Wir verwehren euch nichts. Wir sind eure Freunde und werden es immer bleiben. Allerdings schmieden unsere Herrscher die Gesetze in Haroq. Ich bin eine treue Atreskanerin und werde mich den Gesetzen fügen.«
»Ich vermag deine Haltung zu verstehen und zu respektieren«, erwiderte Rensaark. Er erhob sich. »In aller Freundschaft will ich dich jedoch warnen, Prätorin. In dem Augenblick, in dem ein Soldat der Konkordanz den Fuß auf unseren Boden setzt, befinden wir uns im Krieg, und dieser Krieg wird auch Atreska berühren. Trotz aller Versprechungen ist keiner von euch sicher. Alle werden unter diesem sinnlosen Konflikt leiden. Ich jedenfalls werde tun, was man mir befohlen hat.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Gorsal.
Rensaark war schon an der Tür. »Es ist noch nicht zu spät. Atreska muss sich gegen die Torheit erheben, die durch sein Gebiet marschiert. Ihr müsst euch von der Konkordanz abwenden. Sie haben nicht die Kraft, uns zu besiegen. Hindert sie daran, es zu versuchen. Mit Yuran können wir nicht reden, uns wird kein Zugang zu ihm gewährt. Euch ist dies möglich. Ihr seid seine Untertanen, euch muss er anhören. Bitte, Lena, sprich mit ihm, bevor der Krieg uns alle vernichtet.«
Noch lange, nachdem er gegangen war, starrte Gorsal die Tür an und versuchte, ihr Herz und die zitternden Hände zu beruhigen.
Ardol Kessian saß mit Arducius auf einem mit Gras bewachsenen Hang und blickte zum unter ihnen liegenden Westfallen hinab. An einem solchen Tag konnte man sich unmöglich alt fühlen. Goldenes Korn wiegte sich im leichten Seewind, in den Obstgärten glänzten die reifen Zitrusfrüchte. Schafe und Kühe grasten friedlich, Schweine schlummerten im Schatten. In das lebhafte Lachen der Kinder mischten sich das ferne Rauschen der Wellen am Strand, das Klirren der Hämmer auf Stahl, das Kreischen der Sägeblätter im Holz.
Der junge Aufgestiegene hockte mit Kessian unter einem Sonnenschirm, der die Hitze der Sonne abhielt. Vor ihren Füßen stand ein Krug mit Wasser, zwischen ihnen ein halb geleerter Teller mit Früchten. Der normale Schulbetrieb war fast vorbei, aber die Aufgestiegenen mussten weiterlernen.
»Was fühlst du, wenn du den Himmel überprüfst, Arducius?«, fragte Kessian.
Arducius war noch nicht einmal neun Jahre alt, aber trotzdem schon ein hervorragender Windleser. Seine Vorhersagen waren fast so zuverlässig wie die von Kessian selbst, und seine Begabung hatte sich schon in jungen Jahren gezeigt. Liebevoll dachte Kessian an die ersten Momente. Arducius hatte noch nicht gewusst, wie er die Veränderungen mitteilen sollte, die er im Wetter und im Klima rings um sich wahrnahm. So hatte er auf absurde, aber sehr praktische Weise reagiert und war an einem heißen Solastag mit lederner Regenkleidung hinausgegangen. Damals hatte er den Zeitunterschied zwischen dem Aufspüren einer Gewitterfront und ihrem tatsächlichen Eintreffen noch nicht begriffen. Kessian kicherte.
»Was ist so komisch?«, fragte Arducius.
»Ich
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