Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich

Titel: Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Barclay
Vom Netzwerk:
ob wir in Gorians Schriften irgendetwas übersehen haben. Oder ob er vielleicht sogar in seinen Schlussfolgerungen einen Fehler begangen hat.«
    »Wir müssen alles infrage stellen, was wir zu wissen glauben«, stimmte Kessian zu. »Zugleich sollten wir natürlich auch unsere Lehrmethoden anpassen. Einen Gedanken, der uns allen durch den Kopf geht, muss ich noch aussprechen. Verschwenden wir etwa unsere Zeit? Unsere Ehre verpflichtet uns, die Ausbildung fortzusetzen, aber ist es vielleicht dennoch eine Torheit? Gibt es eine Zukunft für den Aufstieg?«
    Dieses Mal kündete das Schweigen von zerstörten Illusionen.
    Brutal hatte sich die Realität eingemischt. Kessian wollte nach dem Weinbecher greifen, doch seine Hand zitterte zu sehr, und er zog sie zurück. Der Hammel auf seinem Teller kam ihm verdorben vor, die Soße darauf bereitete ihm Übelkeit, das Gemüse war verschrumpelt und schmeckte bitter. Er betrachtete Gennas vom Alter gezeichnetes Gesicht. Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Dann legte sie ihm eine Hand auf den Unterarm und drückte.
    »Sie sind noch so jung«, sagte sie. »Ihre Geister sind noch nicht geformt. Sie sind doch nur Kinder, Ardol. Lass ihnen etwas Zeit.«
    »Alle Hinweise, die wir überhaupt haben, deuten daraufhin, dass sie inzwischen fähig sein sollten, echte mehrfache Begabungen zu entwickeln«, wandte er ein. Tausend Gedanken schossen durch seinen müden Kopf, und keiner erfüllte ihn mit Zuversicht. »Seit drei Jahren versuchen wir, es ihnen zu entlocken. Seit ihre Hauptbegabungen sich entwickelt haben.« Er lächelte. »Wisst ihr noch, wie wir uns damals gefreut haben? Wie sie ihre Begabungen ganz und gar und auf so natürliche Weise begriffen haben, dass wir sie ohne jeden Schatten irgendeines Zweifels als die ersten wahren Aufgestiegenen erkennen konnten? Wundervolle Tage waren das.«
    »Gerade deshalb hast du recht, und wir dürfen nicht aufgeben«, sagte Willem. »Niemals. Ardol, deine Kraft stützt uns seit Jahrzehnten, und in den letzten zehn Jahren war sie so stark, dass du Leute beschämt hast, die vierzig Jahre jünger sind als du. Ich bin froh, dass du heute Abend deine Zweifel und Ängste ausgesprochen hast. Unter uns ist keiner, der nicht ebenso empfunden hätte wie du. Aber damit muss es jetzt aufhören, mein alter Freund. Wir können es uns nicht erlauben, unsere Taten durch unsere Zweifel färben zu lassen. Wir haben viel zu lange gelebt, um jetzt noch besiegt zu werden. Ich spreche für uns alle, Ardol. Wir stehen hinter dir. Wir werden diese Kinder ihrer Bestimmung entgegenführen. Ich weiß, was du denkst, und ich versichere dir, dass wir es tun werden, ehe du in die Erde zurückkehrst.«
    Kessians Augen füllten sich mit Tränen. Dankbar nickte er und sah sich außerstande, die freundlichen Worte auszusprechen, die Willem verdient hätte. Diese Menschen, diese Autorität, sie waren stärker, als er es sich je ausgemalt hätte. Ihre Zuversicht steckte ihn an.
    Dann riss ihn der laute Schrei eines Kindes aus seinen Gedanken und brachte ihn in die Gegenwart zurück. Kessian drehte sich zum Fenster um. Er konnte sie draußen im Hof noch gut erkennen, da im Springbrunnen Windlichter in Schalen trieben. Die Kinder zeichneten sich als Silhouetten vor dem Licht ab.
    »Lass ihn los!«, rief Mirron mit hoher, zitternder Stimme.
    Arducius stieß einen Schmerzensschrei aus. »Bitte«, sagte er.
    »Du wirst ihm den Arm brechen, pass doch auf«, warnte Mirron.
    »Gorian, lass ihn sofort los«, befahl Shela.
    »Er soll sagen, dass es ihm leidtut«, sagte Gorian. »Er muss es sagen.«
    »Das werde ich nicht tun«, quetschte Arducius mit schmalen Lippen hervor. »Ich habe nichts getan, was mir Leid tun müsste.«
    »Dann werde ich fester drücken, bis du nachgibst.« Gorians Stimme klang böse und drohend.
    »Lass ihn sofort los«, schaltete sich Shela mit leiser zorniger Stimme ein.
    Kessian stand mühsam auf, Willem drückte ihm den Gehstock in die Hand. Andreas trat als Erster in den Hof hinaus.
    »Nicht, du brichst ihm den Arm!«, schrie Mirron. »Hör auf, Gorian, hör auf!«
    Arducius heulte voller Schmerzen, aber Gorian ließ immer noch nicht los.
    »Gorian!«, donnerte Kessian, der inzwischen am Fenster stand.
    Es gab einen Blitz, hinter Shela stiegen im Becken Flammen empor, dann erloschen alle Kerzen. Gorian fiel mit einem Schrei auf den Rücken und hielt sein Handgelenk fest. Arducius lief zu Shela; er barg seinen rechten Arm, der zweifellos gebrochen

Weitere Kostenlose Bücher