Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
starker Junge. Du aber kannst dich nicht vor dem verschließen, was du bist. Mir ist klar, wie schwierig das ist. Du bist so jung und unschuldig. Aber du musst uns helfen zu verstehen, wie du es getan hast, damit wir dir helfen können, es zu kontrollieren, und damit wir deinen Brüdern helfen können, es ebenfalls zu tun. Siehst du das ein?«
»Niemand sollte das haben«, erwiderte sie. Seine Stimme und seine Worte verwirrten sie. Ihr Herz raste. Er konnte doch nicht wollen, dass es noch einmal geschah, oder? Nicht nach dem, was sie angerichtet hatte. »Es ist gefährlich.«
»Ja, das ist es«, stimmte Kessian zu. »Es sei denn, es wird kontrolliert. Wenn wir es alle begreifen, kannst du es mit deinen Brüdern einsetzen, um zu helfen und zu heilen. Damit könnt ihr all das tun, was die Menschen wollen und brauchen. Dann werdet ihr auch mit euch selbst zufrieden sein. Ich verspreche dir, so wird es kommen.«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich kann nicht, Vater Kessian. Ich habe Angst.« Abermals war sie den Tränen nahe.
»Ich weiß, meine Kleine. Wenn ich ehrlich bin, haben wir alle ein wenig Angst. Du hast uns einen ganz schönen Schreck eingejagt.« Er lächelte. »Pass auf, ich habe jemanden mitgebracht, der dich sehen will. Vielleicht kann er dir helfen. Komm rein, Gorian.«
Er folgte dem Ruf. Groß und stattlich war er, aber sehr müde. Er lächelte, seine blaue Tunika war sauber und frisch gebügelt, und sein Haar war gebürstet und glänzte. Sie wünschte, sie hätte Haare wie er. Die Locken waren so hübsch. Dann fiel ihr Blick auf seinen Arm, und sie hätte sich am liebsten irgendwo verkrochen. Der Verband reichte von der Handfläche bis zum Ellenbogen hinauf. Dabei wurde ihr bewusst, dass sie sich an die Hoffnung geklammert hatte, es sei vielleicht doch nicht ganz so schlimm, wie sie es in ihren Albträumen gesehen hatte. Doch das war es.
»Hallo, Mirron. Wie geht es dir?«
Sie brach in Tränen aus. Gorian wandte sich Hilfe suchend an Kessian, der ihn einfach weiter zum Bett schob. Der Junge legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie spürte den Verband und sah ihn an.
»Es tut mir leid, Gorian«, quetschte sie zwischen den Schluchzern heraus.
Kessian hatte ein Taschentuch gefunden, das er Gorian in die Hand drückte, damit er es ihr geben konnte. »Danke«, sagte sie.
»Ich weiß, dass es dir leidtut«, sagte Gorian. »Du wolltest mir nicht wehtun, du wolltest nur Arducius helfen. Ich habe mich schon bei ihm entschuldigt.« Er ließ den Kopf hängen. »Sein Arm ist gebrochen.«
»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte Mirron, während sie sich die Augen auswischte.
Gorian riss den Kopf wieder hoch. »Und du … wir haben gestern Abend beide etwas falsch gemacht. Arducius sagt, er verzeiht mir. Ich verzeihe dir.«
Die Erleichterung brach über Mirron herein, als stünde sie unter einem klaren Wasserfall. Sie fühlte sich erfrischt, als sei der Schmutz von ihr abgewaschen worden.
»Ich habe gebetet, dass du das sagen würdest.«
»Wir wollen alle tun, was du getan hast … nein, so meine ich das nicht. Ich meine, wir wollen unsere Begabungen richtig einsetzen. Vielleicht hilft uns das, neue Fähigkeiten zu entdecken. Ich kann dir helfen, es zu verstehen. Das können wir alle tun. Bitte, Mirron, komm raus und spiel mit uns. Vater Kessian sagt, wir müssen heute nicht lernen.«
Mirron lächelte, und dieses Mal weinte sie Freudentränen. Er hatte ihr wirklich verziehen. Sie atmete die frische Luft tief ein und fühlte sich wieder ganz lebendig.
»Ja, gut. Ich will mich nur anziehen. Hunger habe ich auch.«
Als Gorian aufstand, bemerkte sie seinen Blick. Er war eigenartig, weder warm noch glücklich. Erleichtert vielleicht. »Das ist schön. Wir sehen uns dann draußen im Hof. Vielleicht können wir schwimmen gehen.«
»Aber nur, wenn Jen mitkommt.«
»Ich frage sie.«
Er lief aus ihrem Zimmer, seine Schritte verhallten auf dem Marmorboden der Villa. Kessian drückte sich wieder hoch und küsste sie auf die Stirn.
»Danke, Mirron. Du bist für einen so jungen Menschen schon sehr erwachsen.«
Sie kicherte und wand sich verlegen.
»Vergiss nicht, dass wir immer da sind, um dir zu helfen und dich zu unterstützen. Du und deine Brüder, ihr seid uns sehr wichtig. Wir wollen nicht, dass euch etwas zustößt.«
Mirron strahlte ihn an. Vielleicht würde dieser Tag nun doch wie der gestrige werden.
Im Laufe der nächsten paar Tage, während die Menschen in Westfallen unter einem
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