Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
viel mehr Zeit, um zu lernen. Leider hat Gorian, der erste Gorian, uns nicht gesagt, wie lange es dauert, bis sich der wahre Aufstieg zeigt.« Sein Blick fiel auf Gorian. »Es gibt keinen falschen Weg, weil wir den richtigen überhaupt nicht kennen. Aber wenn du es uns vorführen kannst, dann wären wir alle sehr, sehr glücklich. Bitte.«
Gorian lächelte, schnitt eine höhnische Grimasse und begann. Doch auch er konnte es nicht, so wenig wie Arducius und Ossacer. Obwohl Vater Kessian ihnen schmeichelte und sie ermutigte, dass sie eines Tages Erfolg haben würden, sollte es nicht an diesem Tag geschehen. So ging Mirron enttäuscht voran, als sie den Obstgarten verließen, während die Sonne hinter den Klippen versank und die Tageshitze nachließ.
An diesem Abend aß Kessian zusammen mit Genna, Hesther, Willem Geste und Andreas Koll. Es war eine bedrückte Versammlung, und zu allem Überfluss drang vom Garten das ständige Gezanke der Kinder durch die Fenster herein.
Kessian blickte nach draußen, an den Kolonnaden vorbei, und zum ersten Mal seit ihrer Geburt nagten echte Zweifel an ihm. Shela saß dort draußen auf einer Bank vor einem Brunnen und beaufsichtigte ihre Schützlinge. Begonnen hatte es mit aufschneiderischen Behauptungen, welches ihrer Talente am nützlichsten wäre. Ein im Grunde harmloser Streit, den sie wohl zum tausendsten Mal ausgetragen hatten. Einige ihrer Begründungen und Bewertungen waren sogar derart absurd gewesen, dass sie tatsächlich für eine gewisse Heiterkeit gesorgt hatten.
»Wenigstens zeigen sie eine Fantasie, die weit über die der anderen, nicht zu einer Linie gehörenden Zehnjährigen hinausgeht«, meinte Genna.
»Besonders hat mir die Vorwarnung vor einer Flutwelle im Gegensatz zu der Errettung Westfallens vor der Viehseuche gefallen«, stimmte Willem Geste zu.
»Ja, Katastrophen«, überlegte Kessian. »Und darunter eine, die sich mit den Wirbelstürmen messen könnte, die wir hier aber glücklicherweise nie zu sehen bekommen. Immerhin ist Arducius sicher, er könne ihre Entstehung beobachten. Das sollte uns alle ruhig schlafen lassen.«
Das Kichern, das darauf folgte, klang hohl und brach rasch wieder ab, während die Kerzen im kühlen Abendwind flackerten und die streitenden Kinderstimmen sogar noch lauter hereindrangen. Kessian wusste, was die anderen dachten. Das war nicht schwer zu erraten.
»Gibt es denn überhaupt irgendwelche Fortschritte?«, wollte Andreas wissen.
»Wenn ich ehrlich bin, müsste ich nein sagen, aber wir wissen nicht, was sich in ihren Köpfen und Körpern wirklich abspielt«, erklärte Kessian. »Sieht einer von euch irgendeine Veränderung?«
»Wir sind deiner Meinung«, erwiderte Hesther. »Wir kennen die Begabungen, die sich deutlich zeigen, wissen aber nichts über ihre Fähigkeit der Manipulation.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wie sollten wir das auch erkennen, solange es sich nicht zeigt?«
Kessian ließ die Schultern hängen. »Ich habe so hart mit ihnen gearbeitet, so sorgfältig. Aber nun sagt mir, ihr alle, wie auf Gottes Erde können wir sie etwas lehren, das wir selbst nicht beherrschen?«
Darauf folgte ein tiefes, nachdenkliches Schweigen. Ein böser, lauter Ruf von Gorian durchbrach die Stille. Kessian explodierte.
»Um Gottes willen, Shela, nun bring doch diese nörgelnden Kinder zur Ruhe«, brüllte er, um sofort danach sowohl die Worte wie die Lautstärke zu bereuen. »Bitte, wir brauchen ein wenig Frieden.«
Eine Pause, ein kurzes Schweigen. Dann ermahnte Shela die Kinder, die keine Widerworte mehr gaben. Kessian sammelte sich noch einen Moment, ehe er fortfuhr.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich bin ein alter Mann, dem es manchmal an Geduld mangelt.«
Die beschwichtigenden Worte der anderen hörte er kaum.
»Die Frage ist nun, wie lange wir es noch versuchen sollen«, meinte Willem schließlich müde. Kessian verstand, wie der Mann sich fühlte.
»Wir haben keine Wahl als weiterzumachen, bis der Allwissende uns in die Erde zurückruft«, sagte Kessian. »Wir kennen keine klare zeitliche Grenze, nach welcher der Aufstieg nicht mehr erreicht werden kann. Vorbilder gibt es auch nicht. Was sollten wir sonst tun?«
Hesther massierte sich das Kinn. »Wir müssen uns auch fragen, ob es an unseren Unterrichtsmethoden liegt.«
Willem lachte und spreizte die Finger. »Wie können wir das herausfinden?« Er füllte seinen Weinkelch nach und gab den Krug nach rechts weiter. Hesther nahm dankbar an. »Ich wüsste gern,
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